In einem kurzen Moment der Gelassenheit dachte Conway, daß sich sein Kopf so oder so gedreht hätte, selbst wenn es sein Körper nicht getan hätte — schuld war dieser einmalige Kuß. Schließlich flogen sie engumschlungen zur Felsenspitze auf der anderen Seite der Bucht, prallten sanft auf und stoben lachend auseinander.
Am künstlichen Grün zogen sie sich auf das ehemalige Restaurant zu. Im Innern war es dämmerig, und während des langsamen Falls in Richtung Decke hatte sich unter dem transparenten Dach und auf den Unterseiten der Tischbaldachine eine Menge Wasser angesammelt. Dort hatten sich Pfützen gebildet, die wie zerbrechliche, fremdartige Früchte aussahen, die sich sanft kräuselten, als Conway und Murchison vorbeikamen, oder in Hunderte von kleinen, silbrigen Tropfen zerplatzten, sobald sie gegen einen Tisch stießen. Bei der niedrigen Decke und dem dämmerigen Licht war es schwierig, nicht irgendwo anzustoßen, und deshalb befanden sich die beiden schon bald in einem Meer von Wassertropfen, die sich scheinbar an sie herandrängten und unzählige winzige, verzerrte Spiegelbilder von ihnen zurückwarfen. Conway empfand all das wie eine fremde Traumwelt — und es war ja auch wie in einem Traum, der einem alle Wünsche erfüllte, daran ließ die dunkle und schöne Gestalt Murchisons an seiner Seite überhaupt keinen Zweifel.
Sie setzten sich an einen der Tische, und zwar vorsichtig, um nicht das Wasser aus dem Baldachin über ihren Köpfen herauszuschütteln. Conway legte Murchisons Hand in seine — die beiden anderen Hände benötigten sie, um sich auf den Stühlen festzuhalten — und sagte: „Ich möchte mit dir reden.“
Sie lächelte ihn nur an, wenn auch ein wenig skeptisch.
Conway versuchte zu sprechen. Er bemühte sich, Dinge zu sagen, die er zuvor viele Male geprobt hatte, doch alles, was er jetzt hervorbrachte, war nur ein unzusammenhängendes Durcheinander. Sie wäre schön, sagte er, und er wolle nicht nur ihr Freund sein, und es sei ziemlich dumm von ihr gewesen, im Hospital zu bleiben. Er liebe und begehre sie und hätte liebend gerne Monate damit zugebracht — wenn auch vielleicht nicht allzu viele Monate —, sie in die Ecke zu drängen, bis sie nichts anderes mehr als „ja“ hätte sagen können. Jetzt aber habe man keine Zeit, irgend etwas richtig zu machen. Die ganze Zeit über habe er nur an sie gedacht, und sogar die Operation an dem TRLH hätte er nur deshalb bis zum Ende durchgehalten, weil er mit den Gedanken bei ihr gewesen sei. Und während des gesamten Bombardements habe er sich darüber Sorgen gemacht, daß sie.
„Ich hab mir über dich auch Sorgen gemacht“, unterbrach ihn Murchison sanft. „Du bist in allen Abteilungen des Hospitals gewesen, und jedesmal ist dort eine Rakete eingeschlagen. Und du hast immer genau gewußt, was zu tun war, und. und ich hatte Angst, du würdest dich noch selbst umbringen.“
Auf Murchisons Gesicht lag ein Schatten, die Uniform klebte feucht an ihrem Körper. Conway spürte, wie sein Mund austrocknete.
„An dem Tag mit dem TRLH bist du einfach wunderbar gewesen“, fuhr Murchison mit warmer Stimme fort. „Es war, als ob man mit einem Diagnostiker zusammenarbeiten würde. Sieben Bänder, hat O’Mara gesagt. Ich. ich hatte ihn vorher gebeten, mir eins zu geben, um dir zu helfen. Aber das hatte er abgelehnt, weil er.“ — Sie zögerte und schaute beiseite — „. weil er meinte, Frauen seien sehr wählerisch darin, von sich Besitz ergreifen zu lassen. Ihre Gehirne seien, ich meine.“
„Wie wählerisch denn?“ fragte Conway mit belegter Stimme. „Sind. Freunde von der Wahl ausgeschlossen?“
Während er sprach, beugte er sich unwillkürlich nach vorn und ließ dabei aus Versehen den Stuhl los, an dem er sich mit der freien Hand festgehalten hatte. Schwerfällig trieb er vom Tisch weg nach oben, stieß gegen den Baldachin und berührte mit der Stirn einen der umhertreibenden Riesentropfen. Die Oberflächenspannung riß, der Tropfen zerplatzte und ergoß sich über sein Gesicht. Prustend wischte er sich das Wasser aus dem Gesicht, das dabei zu einer Wolke aus winzigen, schillernden, murmelgroßen Tröpfchen zerstob. Und dann sah er etwas.
Es war der einzige disharmonische Ton in dieser Traumwelt; ein Stapel von Raketen ohne Sprengkopf in einer dunklen Ecke des Raums. Die Raketen wurden von Klemmen am Boden gehalten und waren zusätzlich durch ein Netz gesichert, falls die Klemmen durch die Erschütterung einer Explosion aufgerissen worden wären. Unter dem Netz war noch eine Menge Platz. Conway stieß sich in Richtung Netz ab, wobei er sich noch immer an Murchison festhielt, suchte, bis er den Rand des Netzes fand, und hob ihn vom Boden hoch.
„Wir können uns nicht richtig unterhalten, wenn wir weiterhin in der Luft herumschweben“, sagte er leise. „Komm mit auf mein Zimmer.“
Vielleicht ähnelte das Netz zu stark einem Spinnengewebe, oder Conways Ton glich zu sehr dem einer räuberischen Spinne, jedenfalls merkte er, daß sie zögerte. Die Hand, die er hielt, zitterte.
„Ich. ich weiß, wie du dich fühlst“, sagte Murchison schnell, sah ihn dabei jedoch nicht an. „Ich mag dich ja auch. Vielleicht empfinde ich für dich sogar noch mehr als das. Aber was du vorhast, ist nicht richtig. Mir ist ja klar, daß wir keine Zeit haben, aber sich hier so herunterzuschleichen, wie wir es getan haben, und. das ist selbstsüchtig. Ich muß immer an die ganzen Männer auf den Korridoren denken und an die anderen Verwundeten, die erst noch eingeliefert werden. Ich weiß, das klingt spießig, aber wir müssen eben zuerst an die anderen denken. Und deshalb.“
„Danke!“ unterbrach Conway sie wütend. „Vielen Dank, daß du mich an meine Pflichten erinnerst.“
„Oh, bitte!“ rief Murchison, und auf einmal schmiegte sie sich wieder an ihn und legte den Kopf auf seine Brust. „Ich will dich doch nicht verletzen, und ich will auch nicht, daß du mich haßt. Ich hatte nicht gedacht, daß dieser Krieg so schrecklich sein würde. Ich hab Angst. Ich will nicht, daß du getötet wirst und mich ganz alleine läßt. Bitte halt mich fest und. und sag mir, was ich tun soll.“
Ihre Augen funkelten, aber erst als einer der winzigen glänzenden Punkte herauslief, merkte Conway, daß sie leise weinte. Irgendwie hatte er sich Murchison nie weinend vorgestellt. Er hielt sie lange Zeit fest und schob sie dann sanft von sich.
Mit rauher Stimme sagte er: „Natürlich hasse ich dich nicht, aber im Moment will ich auch nicht darüber reden, was ich jetzt genau empfinde. Komm, ich bringe dich nach Hause.“
Dazu kam es aber nicht mehr. Denn wenige Minuten später ertönte die Alarmsirene, und als diese endlich wieder verstummt war, wurde Conway über die Lautsprecheranlage gebeten, sich sofort in die Kommandozentrale zu begeben.
23. Kapitel
Früher war es einmal die Anmeldezentrale der Aufnahmestation gewesen, in der sich drei flinkzüngige Nidianer mit den manchmal komplexen Schwierigkeiten befassen mußten, Patienten aus ihren Ambulanzschiffen herauszuholen und in das Hospital hineinzubringen. Jetzt handelte es sich um das Hauptquartier des Oberkommandos, in dem zwanzig Offiziere des Monitorkorps nervös in Kehlkopfmikrofone murmelten, während ihre Augen an den Bildschirmen hafteten, die den Feind in allen Vergrößerungsgraden von null bis fünfhundert zeigten. Auf zweien der drei Hauptschirme waren Teile der feindlichen Flotte abgebildet, und diese Darstellungen wurden teilweise durch geisterhafte Linien und geometrische Figuren überlagert, durch die ein taktischer Offizier vorauszusagen versuchte, welchen Schritt die feindliche Flotte als nächstes unternehmen würde. Der dritte Bildschirm stellte eine Weitwinkelaufnahme der Außenwand des Hospitals dar.
Eine Rakete schoß wie eine entfernte Sternschnuppe heran, erzeugte beim Aufprall einen kleinen Blitz und warf eine winzige Trümmerfontäne auf. Das reißende, metallische Krachen, das durch den Raum widerhallte, stand jedoch in keinem Verhältnis zum Bild.