Nichtsdestoweniger suchte Conway gleich darauf das Büro von Captain Bryson auf, dem Kaplan des Monitorkorps, und fragte den Geistlichen eine ganze Weile nach vornehmlich praktischen Erfahrungen in bezug auf Gotteserscheinungen aus — Conway war nun mal ein Mensch, der sich möglichst stets nach allen Seiten absichern wollte. Sein nächster Besuch galt Colonel Skempton, dem Leiter der Ingenieursdivision, die in erster Linie für das Nachschub- und Nachrichtenwesen und die Wartung des Orbit Hospitals verantwortlich war. Dort forderte er, zusammen mit sämtlichen zur Verfügung stehenden Hintergrundinformationen, eine vollständige Abschrift des Bordbuchs an, das der Patient geführt hatte — also nicht nur die für den Mord relevanten Passagen.
Dann begab er sich in den AUGL-OP, wo er vor Medizinstudenten verschiedene Operationstechniken an unter Wasser lebenden ETs demonstrierte. Vor dem Mittagessen konnte er schließlich noch zwei Stunden in der Pathologie verbringen, während der er einiges über die Unsterblichkeit seines Patienten herausfand.
Als er in sein Zimmer zurückkehrte, lag ein dicker Papierstapel auf seinem Schreibtisch. Mit Entsetzen dachte er daran, wie er seine sechsstündige Freizeit würde verbringen müssen, zumal er etwas ganz anderes geplant hatte. Vor ihm tauchte das deutliche Bild der sehr tüchtigen und außergewöhnlich hübschen Schwester Murchison auf, mit der er sich in letzter Zeit regelmäßig traf. Aber die Schwester war derzeit in der FGLI-Entbindungsstation stark eingespannt, und sie würden erst wieder in zwei Wochen eine Freizeit miteinander verbringen können.
Unter den gegenwärtigen Umständen war das vielleicht sogar ganz in Ordnung so, dachte Conway, und er begann, sich in die Unterlagen einzuarbeiten, die ihm von Skempton geschickt worden waren.
Den Monitoren, die das Schiff des Patienten untersucht hatten, war es zwar nicht gelungen, die EPLH-Zeiteinheiten exakt in terrestrische Werte umzurechnen, aber mit ziemlicher Bestimmtheit hatten sie feststellen können, daß viele der auf Band aufgenommenen Logbuchaufzeichnungen etliche Jahrhunderte alt sein mußten und einige sogar schon zweitausend Jahre und mehr. Conway begann mit der ältesten Aufzeichnung und arbeitete sich sorgfältig bis zur jüngsten vor. Von Anfang an hatte er feststellen können, daß es sich dabei weniger um ein Tagebuch mit persönlichen Eintragungen handelte, da subjektive Anmerkungen relativ selten vorkamen, als vielmehr um eine Art Ansammlung von Notizen, von denen viele schwer verständliche technische Angaben enthielten. Die für den Mord relevanten Aufzeichnungen, die er als letztes unter die Lupe nahm, waren da schon sehr viel aufschlußreicher.
mein Arzt macht mich krank, er tötet mich regelrecht, lautete der letzte Eintrag. Ich muß etwas dagegen unternehmen. Wenn er zuläßt, daß ich krank werde, ist er ein schlechter Arzt. Ich muß ihn irgendwie loswerden…
Mit einem Seufzen legte Conway das letzte Blatt auf den Stapel zurück und nahm eine bequemere Position ein, um besser nachdenken zu können. Dazu legte er die Füße auf den Schreibtisch, kippte seinen Sessel ein ganzes Stück zurück und rutschte so weit nach unten, bis er praktisch auf seinem Nacken saß.
Was für ein unglaubliches Durcheinander! fluchte er im stillen.
Die Einzelteile des Puzzles hatte er jetzt allerdings beisammen — jedenfalls die meisten —, und sie mußten nur noch richtig zusammengesetzt werden. Da war zunächst der Krankheitszustand des Patienten, für das Hospital ein Routinefall, aber eindeutig lebensbedrohlich, wenn keine Behandlung eingeleitet wurde. Dann gab es die Angaben der beiden Ianer, die sich auf diese gottähnlichen und machthungrigen, aber in erster Linie wohltätigen Wesen bezogen und auch auf deren Begleiter, die ausnahmslos einer anderen Spezies angehörten und stets mit ihnen gemeinsam reisten und lebten. Diese Weggefährten mußten allerdings immer wieder ersetzt werden, da sie im Gegensatz zu den EPLHs alterten und starben. Außerdem gab es noch die beiden Berichte aus der Pathologie — nämlich zum einen die Abschrift, die er noch vor dem Mittagessen erhalten hatte, und zum anderen den mündlichen Bericht, den ihm Thornnastor, der FGLI–Chefdiagnostiker der Pathologie, während eines zweistündigen Gesprächs erstattet hatte. Thornnastor war der festen Überzeugung, der EPLH sei nicht wirklich unsterblich — und wenn ein Diagnostiker erst einmal von etwas fest überzeugt war, kam das in der Realität einer felsenfesten Gewißheit sehr nahe. Während eine Unsterblichkeit aus verschiedenen physiologischen Gründen heraus ausgeschlossen werden konnte, hatten die Testergebnisse allerdings immerhin bewiesen, daß der Patient über ein sehr langes Leben verfügen mußte oder sich hin und wieder Verjüngungskuren unterzogen hatte.
Schließlich gab es noch Priliclas Aussagen über den emotionalen Zustand des Patienten, und zwar vor und während der Behandlungsversuche der erkrankten Hautpartien. Laut Prilicla hatte der Patient dabei die ganze Zeit Gefühle der Verwirrung, Angst und Hilflosigkeit ausgestrahlt. Nach Erhalt der zweiten Injektion hatte der EPLH jedoch wild um sich geschlagen, und nach Priliclas eigenen Worten hätte er aufgrund des vehementen Gefühlsausbruchs des Patienten fast selbst einen Gehirnschlag erlitten. Jedenfalls war es ihm unmöglich gewesen, einen solch gewaltigen Gefühlsausbruch zu analysieren, zumal er sich innerlich auf die zuvor ruhigere emotionale Ausstrahlung des Patienten eingestellt hatte. Doch immerhin stimmte er mit Conways Meinung überein, daß die Umstände auf ein höchst schizoides Verhalten des EPLH schließen ließen.
Conway sank noch tiefer in seinen Sessel zurück, schloß die Augen und ließ die Einzelteile des Puzzles in Gedanken langsam zusammenwachsen.
Alles hatte seinen Anfang auf dem Planeten genommen, auf dem sich der EPLH zur dominanten Lebensform entwickelt hatte. Im Laufe der Zeit waren diese Wesen zu einer Zivilisation herangereift, die es bis zu interstellaren Raumflügen und zu einer hochentwickelten medizinischen Wissenschaft gebracht hatte. Ihre von Natur aus hohe Lebenserwartung war zudem künstlich verlängert worden, so daß man es einer relativ kurzlebigen Spezies wie den Ianern nicht verübeln konnte, die EPLHs für unsterblich zu halten. Für ihre hohe Lebenserwartung hatten diese Wesen allerdings einen ebenso hohen Preis zahlen müssen: Die Erhaltung der eigenen Art — das natürliche Streben nach Unsterblichkeit aller sterblichen Wesen also — war als erstes eingestellt worden. Dann hatte sich ihre Gesellschaft — fast gezwungenermaßen — in eine Unzahl raumreisender Einzelwesen aufgelöst, was schließlich zu einem seelischen Verfall führte, zumal das Risiko des rein körperlichen Verfalls praktisch nicht mehr existierte.
Was für bedauernswerte Halbgötter, dachte Conway.
Sie vermieden die Gesellschaft ihrer Artgenossen aus dem einfachen Grund, weil sie sich gegenseitig satt hatten — jahrhundertelang das Gehabe der anderen, deren Sprache und Meinungen und zudem fortwährend deren Anblick ertragen zu müssen, schien unendlich langweilig zu sein. Weil sie fortwährend gegen diese Langweile anzukämpfen hatten, und weil sie über ein enormes Wissen und unendlich viel Zeit verfügten, hatten sie sich die Lösung schwerwiegender gesellschaftlicher Probleme anderer Spezies zur Aufgabe gemacht. Dabei kümmerten sie sich als grundsätzlich friedfertige Wesen in erster Linie um rückständige oder auf Abwege geratene planetarische Zivilisationen, bis diese aus eigener Kraft in der Lage waren, eine ähnlich hochstehende Kultur wie die ihre zu erreichen. Da ihre enorm hohe Lebenserwartung ihnen zudem eine immer größer werdende Furcht vor dem Tode einflößen mußte, wurden sie stets von einem Leibarzt begleitet, der ihren zweifellos sehr hohen medizinischen Ansprüchen genügen mußte.