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»Dass ich beinahe umgebracht worden wäre.«

»Hier. Setz dich.« Lucy nimmt Platz und klopft auf eine freigeräumte Stelle neben sich. »Eine kleine Pause kann nicht schaden.« Ihr gefrorener Atem steigt wie Dampf in den Himmel auf, und ihr Gesicht ist vor Kälte schon fast taub. »Fast umgebracht im Gegensatz zu fast ermordet?«

»Das ist doch dasselbe.« Zögernd steht Henri neben dem Baumstamm, blickt sich um und betrachtet den verschneiten Wald und die tiefer werdenden Schatten. Durch die kalten, dunklen Zweige sind buttergelb die Lichter der Häuser und der Schönheitsfarm zu sehen. Rauch kräuselt aus den Kaminen.

»Ich würde es nicht unbedingt als dasselbe bezeichnen«, entgegnet Lucy. Als sie zu ihr aufblickt, bemerkt sie, wie mager sie geworden ist, und sie erkennt etwas in ihren Augen, das ihr anfangs nicht aufgefallen ist. »Fast umgebracht worden zu sein, das klingt so distanziert. Wahrscheinlich suche ich eher nach Gefühlen.«

»Es ist besser, nicht nach etwas zu suchen.« Widerstrebend setzt sich Henri auf den Baumstamm, hält aber Abstand zu Lucy.

»Du hast nicht nach ihm gesucht, er hat dich gefunden«, sagt Lucy und blickt, die Arme auf die Knie gestützt, geradeaus in den Wald.

»Gut, ich wurde verfolgt. Halb Hollywood wird verfolgt. Wahrscheinlich gehöre ich jetzt auch zum Club«, gibt sie zurück und klingt recht erfreut darüber, dass sie jetzt Mitglied des Clubs der von Stalkern verfolgten Filmstars ist.

»Das dachte ich bis vor kurzem auch.« Lucys behandschuhte Hände greifen in den Schnee zwischen ihren Füßen. Sie hebt eine Hand voll weißes Pulver auf und betrachtet es. »Du hast ein Interview gegeben und gesagt, dass ich dich eingestellt habe, ohne mir je davon zu erzählen.«

»Was für ein Interview?«

»Im Hollywood Reporter. Du wirst darin zitiert.«

»Ich bin schon so oft falsch zitiert worden«, erwidert sie gereizt.

»Es geht nicht um Dinge, die du angeblich nie gesagt hast, sondern um das Interview als solches. Ich bin überzeugt, dass du eines gegeben hast. Der Name meiner Firma kommt darin vor. Nicht dass die Existenz des Letzten Reviers ein dunkles Geheimnis wäre, aber die Tatsache, dass ich mit der Zentrale nach Florida umgezogen bin, geht niemanden etwas an. Diesen Umstand habe ich absolut geheim gehalten, hauptsächlich wegen des Ausbildungslagers. Und dennoch stand es in der Zeitung, und wenn etwas erst einmal publik ist, wird es ständig wiedergekäut.«

»Offenbar hast du keine Ahnung von der Klatschpresse und Zeitungsenten«, entgegnet Henri. Lucy weigert sich, sie anzusehen, als sie weiterredet. »Wenn du je im Filmgeschäft gearbeitet hättest, würdest du begreifen, was dahintersteckt.«

»Ich fürchte, davon verstehe ich eine ganze Menge. Aus irgendeiner Quelle hat Edgar Allan Pogue erfahren, dass meine Tante angeblich in meinem neuen Büro in Hollywood, Florida, arbeitet. Und rate mal, was er gemacht hat?« Sie beugt sich vor und hebt noch mehr Schnee auf. »Er ist nach Hollywood gekommen. Um mich zu suchen.«

»Er war nicht hinter dir her«, widerspricht Henri, und ihr Tonfall ist so kalt wie der Schnee. Wegen ihrer Handschuhe kann Lucy den Schnee zwar nicht spüren, aber sie fühlt die Kälte, die von Henri ausgeht.

»Ich fürchte, er war es doch. Es ist schwer festzustellen, wer gerade in einem der Ferrari sitzt. Dazu muss man nah herankommen, und sie sind leicht zu verfolgen. Es ist ganz einfach. Pogue hat mich auf irgendeine Weise aufgespürt. Vielleicht hat er sich durchgefragt und das Lager entdeckt und ist dann dem Ferrari zu meinem Haus gefolgt. Möglicherweise war es der schwarze Ferrari. Keine Ahnung.« Sie lässt den Schnee durch die behandschuhten Finger gleiten, hebt ein wenig davon wieder auf und weicht Henris Blick aus. »Er hat meinen schwarzen Ferrari gefunden und ihn zerkratzt. Also wissen wir, dass er das Auto bereits kannte, als du es ohne Erlaubnis und trotz meines Verbots, es jemals zu fahren, benutzt hast. Möglicherweise ist er an diesem Abend auf mein Haus gestoßen. Keine Ahnung. Jedenfalls war er nicht hinter dir her.«

»Du bist so egoistisch«, sagt Henri.

»Weißt du was, Henri?« Lucy öffnet den Handschuh, sodass der Schnee herunterfällt. »Bevor ich dich eingestellt habe, haben wir deine Vergangenheit gründlich überprüft. Es gibt vermutlich keinen Artikel über dich, den wir nicht kennen. Leider sind es ja nicht sehr viele. Also würde ich mich freuen, wenn du diesen Filmstar-Blödsinn lassen könntest. Warum hörst du nicht auf, darauf zu pochen, dass du ein großer Star sein musst, weil dich jemand verfolgt hat? Es langweilt mich.«

»Ich gehe rein.« Sie steht vom Baumstamm auf und verliert fast das Gleichgewicht. »Ich bin wirklich müde.«

»Er wollte dich töten, um sich an mir für etwas zu rächen, das passiert ist, als ich noch ein Teenie war«, erklärt Lucy. »Soweit man einem Spinner wie ihm logische Motive unterstellen kann. Die Sache ist, dass ich mich nicht einmal an ihn erinnere. Wahrscheinlich würde er dich gar nicht wiedererkennen, Henri. Offenbar sind wir alle irgendwann nur Mittel zum Zweck.«

»Ich wünschte, ich wäre dir nie begegnet. Du hast mein Leben ruiniert.«

Tränen treten Lucy in die Augen. Wie festgefroren bleibt sie auf dem Baumstamm sitzen. Sie hebt noch mehr Schnee auf und wirft ihn hoch, sodass das Pulver durch die Dämmerung schwebt.

»Außerdem stehe ich sowieso schon immer mehr auf Männer«, verkündet Henri und kehrt zurück zu der Spur, die sie vorhin auf ihrem Weg zum Baumstamm mit ihren Schneeschuhen hinterlassen haben. »Keine Ahnung, warum ich das mit dir mitgemacht habe. Vielleicht war ich einfach nur neugierig. Vermutlich würden die meisten Leute dich für eine Weile sehr interessant finden. Wo ich herkomme, sind Experimente schließlich nichts Außergewöhnliches. Eigentlich spielt es ja auch gar keine Rolle.«

»Wo hast die Blutergüsse her?«, fragt Lucy. Doch Henri hat ihr schon den Rücken zugekehrt und stolziert mit weiten, übertrieben langen Schritten in den Wald hinein. Schwer atmend stößt sie ihre Stöcke in den Boden. »Ich weiß, dass du dich noch ganz genau daran erinnerst.«

»Ach, die Blutergüsse, die du fotografiert hast, Miss Super-Cop?«, höhnt Henri keuchend und bohrt einen Skistock in den tiefen Schnee.

»Ich weiß, dass du dich erinnerst.« Lucy sitzt auf dem Baumstamm und blickt ihr mit tränennassen Augen nach. Doch es gelingt ihr, ihre Stimme zu beherrschen.

»Er hat sich auf mich draufgesetzt.« Henri stößt den zweiten Skistock in den Schnee und hebt einen Schneeschuh. »Dieser Spinner mit den langen lockigen Haaren. Zuerst dachte ich, er wäre die Frau, die den Pool pflegt, kein Mann. Ich hatte ihn schon vor ein paar Tagen dort gesehen, als ich oben krank im Bett lag. Aber ich habe geglaubt, er wäre eine dicke Frau mit krausen Haaren, die Laub aus dem Pool schöpft.«

»Er hat Laub aus dem Wasser geschöpft?«

»Ja. Deshalb bin ich davon ausgegangen, dass es eine andere Poolpflegerin ist, eine Aushilfe vielleicht. Und weißt du, was das Komische ist?« Als Henri sich zu Lucy umdreht, sieht ihr Gesicht ganz anders aus als sonst und wirkt wie das einer Fremden. »Diese bescheuerte Schnapsdrossel, die bei dir nebenan wohnt, hat fotografiert, wie sie es immer tut, sobald sich auf deinem Grundstück etwas rührt.«

»Schön, dass du diese Informationen doch noch weitergibst«, meint Lucy. »Ich bin sicher, dass du sie Benton gegenüber nicht erwähnt hast, obwohl er so viel Zeit damit verbracht hat, dir zu helfen. Wirklich reizend, dass wir jetzt erst von der Existenz dieser Fotos erfahren.«

»An mehr erinnere ich mich nicht. Er saß auf mir. Ich wollte es nicht erzählen.« Sie bekommt kaum Luft, als sie einen Schritt macht. Sie bleibt stehen und dreht sich wieder um. Ihr Gesicht wirkt in der Dämmerung bleich und grausam. »Es war mir peinlich«, keucht sie. »Dass plötzlich ein fetter, hässlicher Spinner an meinem Bett stand. Und nicht etwa, um es mir zu besorgen, sondern um sich auf mich draufzusetzen.« Sie macht kehrt und stapft weiter.