»Menschen liegen in Hospizen, weil sie ohne Schmerzen leben und in Frieden sterben wollen«, antwortet sie. »Menschen, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte beschließen, das bereits oben erwähnte Armband zu tragen, wollen im Grunde genommen dasselbe. Eine Überdosis Morphium, das Abschalten lebenserhaltender Maschinen in einem Hospiz, ein Mensch, der ein Armband trägt und nicht wiederbelebt wird. Das sind nicht unsere Themen. Falls man Sie je zu so einem Fall hinzuzieht, Dr. Marcus, hoffe ich, dass Sie ablehnen.«
»Irgendwelche Anmerkungen?«, fragt Dr. Marcus spitz, sucht seine Akten zusammen und schickt sich an zu gehen.
»Ja«, sagt Marino laut. »Haben Sie schon mal daran gedacht, als Moderator bei einer Quizsendung anzufangen?«
5
Benton Wesley geht in seinem Vier-Zimmer-Stadthaus im Aspen Club von Fenster zu Fenster. Der Empfang seines Mobiltelefons ist mal gut und mal weniger gut, sodass Marinos Stimme manchmal deutlich und dann wieder verzerrt klingt.
»Was? Tut mir Leid, das musst du nochmal wiederholen.« Benton geht drei Schritte zurück und bleibt stehen.
»Ich habe gesagt, das ist noch nicht mal die Hälfte. Es sieht viel schlimmer aus, als du gedacht hast.« Marinos Stimme ist jetzt ohne Störung zu verstehen. »Offenbar hat er sie nur gerufen, um sie vor versammelter Mannschaft fertig zu machen. Oder um es zumindest zu versuchen. Mit Betonung auf versuchen.«
Benton starrt aus dem Fenster in den Schnee, der sich in den Astgabeln der Bäume sammelt und auf den gedrungenen Nadeln der schwarzen Fichte liegt. Zum ersten Mal seit Tagen ist der Morgen sonnig und klar, und die Elstern tollen von Ast zu Ast, landen flatternd und stieben dann, kleine weiße Schneewölkchen aufwirbelnd, davon. Ein Teil von Bentons Verstand nimmt diese Vorgänge wahr und versucht, hinter die Gründe zu kommen. Vielleicht lassen sich die gymnastischen Übungen dieser langschwänzigen Vögel ja biologisch erklären. Allerdings spielt das keine Rolle. Seine Grübeleien sind so vorherbestimmt wie das Verhalten der Fauna und so unablässig wie das Gleiten der Seilbahnkabinen bergauf und bergab.
»Versuchen, ja.« Benton schmunzelt ein wenig, als er es sich vorstellt. »Aber du darfst nicht vergessen, dass er sie nicht aus freien Stücken eingeladen hat. Es war eine Anweisung von oben. Der Gesundheitsminister steckt dahinter.«
»Und woher weißt du das?«
»Es hat mich ein Telefonat gekostet, nachdem sie mir erzählt hatte, dass sie hinfährt.«
»Wirklich ein Jammer wegen Asp…« Marinos Stimme bricht ab.
Benton geht zum nächsten Fenster. Hinter ihm im Kamin knistern die Flammen und knackt das Holz. Er starrt weiter durch die vom Boden bis zur Decke reichenden Scheiben. Sein Blick ist auf das Steinhaus gegenüber gerichtet, als sich dort die Eingangstür öffnet. Ein Mann und ein Junge, dem Wetter entsprechend gekleidet, kommen aus dem Haus; der Atem steht ihnen wie eine Dampfwolke vor dem Mund.
»Inzwischen weiß sie, dass sie benutzt wird«, sagt Benton. Er kennt Scarpetta so gut, dass seine Vorhersagen in den meisten Fällen zutreffen. »Leider steckt jedoch noch mehr dahinter, viel mehr. Kannst du mich verstehen?«
Er sieht zu, wie der Mann und der Junge Ski und Stöcke schultern und, unbeholfen in ihren halb offenen Skistiefeln, davontrotten.
»Hm?« Marino sagt das in letzter Zeit häufig, er geht Benton damit auf die Nerven.
»Kannst du mich verstehen?«, fragt Benton.
»Ja, ich höre dich gut«, ist Marino nun wieder zu vernehmen. »Er braucht sie als Sündenbock. Deshalb hat er sie überhaupt hergeholt. Sonst kann ich dir noch nicht viel sagen, ich muss erst mehr in Erfahrung bringen. Über das Mädchen, meine ich.«
Benton ist über Gilly Paulsson im Bilde. Ihr geheimnisvoller Tod wurde zwar nicht in den landesweiten Nachrichten gemeldet – noch nicht –, aber im Internet kann man alles lesen, was die Medien in Virginia über den Fall gebracht haben. Außerdem hat Benton seine eigenen Mittel und Wege, um an Informationen heranzukommen. Auch Gilly Paulsson wird benutzt, weil es dafür nicht unbedingt notwendig ist, dass man noch lebt.
»Ist die Verbindung schon wieder abgebrochen? Verdammt«, schimpft Benton.
»Alles verstanden, Boss.« Marinos Stimme ist plötzlich wieder deutlich zu hören. »Warum telefonierst du nicht im Festnetz? Damit wäre die Hälfte unseres Problems gelöst.«
»Geht nicht.«
»Glaubst du, du wirst abgehört?« Marino macht keine Witze. »Das kann man doch rausfinden. Wende dich an Lucy.«
»Danke für den Tipp.« Benton braucht Lucys Hilfe in Sachen Überwachung nicht, denn Wanzen sind nicht sein Problem.
Er blickt dem Mann und dem Jungen nach und denkt dabei an Gilly Paulsson. Der Junge muss etwa in Gillys Alter sein, so alt wie das Mädchen war, als es starb. Dreizehn, vielleicht vierzehn. Nur dass Gilly nie die Gelegenheit zum Skilaufen hatte. Sie war noch nie in Colorado oder sonst irgendwo. Sie wurde in Richmond geboren. Dort ist sie auch gestorben, und während ihres kurzen Lebens hat sie fast nur gelitten. Benton stellt fest, dass der Wind auffrischt. Schnee wird von den Bäumen geweht und treibt durch die Luft wie Rauch.
»Ich möchte, dass du ihr Folgendes sagst«, beginnt Benton, und die Betonung auf dem Wort ihr bedeutet, dass er Scarpetta meint. »Ihr Nachfolger, wie ich ihn leider nennen muss …«, fährt er fort, denn er will weder Dr. Marcus’ Namen aussprechen noch irgendwelche Einzelheiten ausführen; außerdem kann er den Gedanken nicht ertragen, dass jemand, insbesondere dieser Wurm Dr. Joel Marcus, der Nachfolger von Scarpetta sein könnte. »Die Person, die uns interessiert …«, setzt Benton seine geheimnisvollen Andeutungen fort. »Wenn sie ankommt«, fügt er hinzu, womit er wieder Scarpetta meint, »spreche ich alles persönlich mit ihr durch. Aber bis dahin seid vorsichtig, äußerst vorsichtig.«
»Was soll das heißen: ›Wenn sie ankommt‹? Ich nehme an, dass sie eine Weile hier festsitzen wird.«
»Sie soll mich anrufen.«
»Äußerst vorsichtig?«, beschwert sich Marino. »Mist. Typisch, dass du so was sagst.«
»Bleib immer in ihrer Nähe.«
»Hm?«
»Bleib in ihrer Nähe. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Das wird ihr gar nicht gefallen«, erwidert Marino.
Benton blickt hinaus auf die schroffen Hänge der mit Schnee bedeckten Rockies, eine Schönheit, die von grausam tosenden Winden und der ungehemmten Zerstörungskraft von Gletschern geformt wurde. Espen und Immergrün bedecken wie Stoppeln die Berge, die die alte Bergarbeiterstadt umgeben wie ein Kessel. Im Osten, hinter einem Felskamm, breitet sich ein entfernter grauer Wolkenschleier langsam über den leuchtend blauen Himmel aus. Heute wird es wieder schneien.
»Das kann ich mir denken«, antwortet Benton.
»Sie sagt, du würdest an einem Fall arbeiten.«
»Ja.« Benton darf nicht darüber reden.
»Also wirst du wahrscheinlich in Aspen bleiben und weiterarbeiten.«
»Für den Moment schon«, entgegnet Benton.
»Muss was Ernstes sein, wenn du dafür deinen Urlaub opferst«, fischt Marino im Trüben.
»Ich darf nicht darüber reden.«
»Hm? Diese verdammten Mobiltelefone«, schimpft Marino. »Lucy müsste was erfinden, das man weder anzapfen noch mit einem Scanner abhören kann. Sie würde ein Vermögen damit verdienen.«
»Ich glaube, sie ist bereits reich.«
»Das kannst du laut sagen.«
»Also, lass es dir gut gehen«, meint Benton. »Wenn du in den nächsten Tagen nichts von mir hörst, pass auf sie auf. Sei auf der Hut, das ist mein Ernst.«
»Als ob ich das nicht schon wäre«, gibt Marino zurück. »Und tu dir nicht weh, wenn du im Schnee spielst.«
Benton beendet das Gespräch, kehrt zum Sofa zurück, das zu den Fenstern hin ausgerichtet ist und vor dem Kamin steht, und setzt sich wieder. Auf dem wurmstichigen Couchtisch aus Kastanienholz liegt ein Notizblock, voll gekritzelt mit seiner fast unleserlichen Handschrift. Daneben eine Glock, Kaliber .40. Nachdem er eine Lesebrille aus der Brusttasche seines Jeanshemdes genommen hat, stützt er sich auf die Armlehne und beginnt, den Notizblock durchzublättern. Jede der linierten Seiten ist nummeriert, und in der oberen rechten Ecke steht ein Datum. Benton reibt mit der Hand über sein kantiges Kinn, und ihm fällt ein, dass er sich seit zwei Tagen nicht rasiert hat. Seine rauen, grauen Bartstoppeln erinnern ihn an die Nadelbäume auf den Bergen. Mit einem Stift zieht er einen Kreis um die Wörter »gemeinsame Paranoia«, hebt den Kopf und späht durch die Lesebrille auf seiner geraden, spitzen Nase.