»Das stimmt«, erwidert er. »Sie ist nicht hier, weil du hier bist, Henri.«
»Sie muss sauer gewesen sein, als du ihr gesagt hast, dass sie nicht kommen kann.«
»Sie versteht das«, entgegnet er, doch jetzt ist er nicht ganz ehrlich.
Scarpetta hat es einerseits verstanden, andererseits aber auch nicht. Du kannst im Moment nicht nach Aspen kommen, hat er ihr eröffnet, nachdem er Lucys panischen Anruf erhalten hatte. Ich fürchte, ich habe einen neuen Fall, um den ich mich kümmern muss.
Dann bleibst du also nicht in Aspen, hat Scarpetta gemutmaßt.
Ich darf über den Fall nicht sprechen, erwiderte er, und wie er annimmt, vermutet sie ihn zurzeit überall, nur nicht in Aspen.
Das ist wirklich unfair, Benton, hat sie erwidert. Ich habe diese beiden Wochen extra für uns freigehalten. Ich habe auch Fälle.
Bitte hab Geduld mit mir, antwortete er. Ich verspreche, dir später alles zu erklären.
Ausgerechnet jetzt, beklagte sie sich. Der Moment ist ausgesprochen ungünstig. Wir brauchen die Zeit für uns.
Damit hat sie Recht gehabt, und trotzdem sitzt er jetzt hier mit Henri zusammen. »Erzähl mir, was du letzte Nacht geträumt hast. Erinnerst du dich daran?«, wendet er sich jetzt an sie.
Ihre geschmeidigen Finger betasten ihre linke große Zehe, als wäre sie verletzt. Benton steht auf. Beiläufig nimmt er die Glock und durchquert das Wohnzimmer in Richtung Küche. Dort öffnet er einen Schrank, legt die Pistole in ein oberes Fach, nimmt zwei Tassen heraus und schenkt Kaffee ein. Er und Henri trinken ihn schwarz.
»Er ist vielleicht ein bisschen stark. Aber ich kann auch neuen kochen.« Mit diesen Worten setzt er ihre Tasse auf einem Beistelltisch ab und kehrt zu seinem Platz auf dem Sofa zurück. »Vorletzte Nacht hast du von einem Ungeheuer geträumt. Du hast es als ›die Bestie‹ bezeichnet, richtig?« Sein aufmerksamer Blick richtet sich auf ihre traurigen Augen. »Hast du das Ungeheuer letzte Nacht wieder gesehen?«
Sie antwortet nicht. Ihre Stimmung hat sich im Vergleich zu vorhin drastisch verändert. In der Dusche muss irgendetwas vorgefallen sein, doch damit wird er sich später befassen.
»Wir müssen nicht über das Ungeheuer sprechen, wenn du nicht möchtest, Henri. Aber je mehr du mir über den Mann erzählst, desto besser kann ich ihn finden. Du willst doch, dass ich ihn finde, oder?«
»Mit wem hast du vorhin telefoniert?«, fragt sie in derselben leisen Kinderstimme. Doch sie ist kein Kind und alles andere als unschuldig. »Du hast über mich geredet«, beharrt sie; der Gürtel ihres Morgenmantels lockert sich, und mehr nackte Haut ist zu sehen.
»Ich schwöre, ich habe nicht über dich geredet. Niemand weiß, dass du hier bist. Niemand außer Lucy und Rudy. Ich dachte, du vertraust mir, Henri.« Er hält inne und schaut sie an. »Ich dachte, du vertraust Lucy.«
Ihr Blick wird zornig, als sie Lucys Namen hört.
»Ich dachte, du vertraust uns, Henri«, fährt Benton fort. Er sitzt ruhig da, die Beine übereinander geschlagen und die Hände auf dem Schoß verschränkt. »Ich möchte, dass du dich richtig anziehst, Henri.«
Sie zupft ihren Morgenmantel zurecht, steckt ihn zwischen den Beinen fest und strafft den Gürtel. Benton weiß genau, wie ihr nackter Körper aussieht, aber er stellt ihn sich nicht vor. Er kennt die Fotos, und er wird sie sich erst wieder mit Kollegen anschauen. Irgendwann vielleicht auch mit ihr selbst, falls sie jemals dazu bereit sein wird. Im Augenblick hält sie – entweder absichtlich oder unabsichtlich – die Einzelheiten des Verbrechens zurück und gebärdet sich stattdessen in einer Art und Weise, die schwächere Menschen, die ihre Tricks nicht verstehen, entweder verführen oder ihnen den letzten Nerv rauben würde. Ihre unablässigen Versuche, Benton ins Bett zu kriegen, haben nicht nur einfach etwas mit Übertragung zu tun, sondern sind ein Beweis dafür, wie narzisstisch sie ist. Sie ist nur glücklich, wenn sie jeden Menschen, der es wagt, sie zu mögen, kontrollieren, beherrschen, demütigen und zerstören kann. Henris Verhalten und ihre Reaktionen haben ihre Wurzeln in Selbsthass und Wut.
»Warum hat Lucy mich weggeschickt?«, fragt sie.
»Kannst du mir das nicht selbst sagen? Warum erzählst du mir nicht, wieso du hier bist?«
»Weil …« Sie wischt sich mit dem Ärmel des Morgenmantels über die Augen. »Die Bestie.«
Benton hält seinen sicheren Posten auf dem Sofa und lässt sie nicht aus den Augen. Die Aufzeichnungen in seinem Notizblock sind von ihrem Platz aus nicht zu lesen und außerhalb ihrer Reichweite. Er drängt sie nicht zu sprechen und übt sich in Geduld wie ein Jäger im Wald, der reglos verharrt und atemlos abwartet.
»Die Bestie ist ins Haus gekommen. Ich erinnere mich nicht.«
Benton beobachtet sie schweigend.
»Lucy hat sie ins Haus gelassen.«
Benton hat zwar nicht vor, Druck auf sie auszuüben, doch Fehlinformationen und unverfrorene Lügen kann er nicht dulden. »Nein, Lucy hat sie nicht ins Haus gelassen«, verbessert er sie. »Niemand hat sie ins Haus gelassen. Die Bestie konnte eindringen, weil die Hintertür nicht verschlossen und die Alarmanlage nicht eingeschaltet war. Weißt du, warum?«
Sie starrt auf ihre Zehen. Ihre Hände bewegen sich nicht.
»Wir haben doch schon über den Grund gesprochen«, fährt er fort.
»Ich hatte die Grippe«, erwidert sie und fixiert eine andere Zehe. »Ich war krank, und sie war nicht zu Hause. Ich habe gefroren und bin deshalb raus in die Sonne gegangen und habe dann vergessen, die Tür abzuschließen und die Alarmanlage wieder einzuschalten. Ich habe nicht dran gedacht, weil ich Fieber hatte. Und jetzt gibt Lucy mir die Schuld.«
Benton trinkt einen Schluck Kaffee. »Hat Lucy gesagt, dass es deine Schuld ist?«
»Sie denkt es.« Jetzt schaut Henri an ihm vorbei aus den Fenstern hinter seinem Kopf. »Für sie bin immer nur ich schuld.«
»Mir hat sie nie gesagt, dass sie dir die Schuld gibt«, erwidert er. »Du wolltest mir doch von deinen Träumen erzählen«, kehrt er zum ursprünglichen Thema zurück. »Deinen Träumen von letzter Nacht.«
Sie blinzelt und reibt wieder ihre große Zehe.
»Hast du Schmerzen?«
Sie nickt.
»Das tut mir Leid. Soll ich dir was dagegen geben?«
Sie schüttelt den Kopf. »Das würde nichts nützen.«
Sie meint zwar nicht ihre rechte große Zehe, doch sie stellt eine Verbindung her; dazwischen, dass diese gebrochen ist, und dem Umstand, dass sie sich jetzt hier befindet, mehr als tausendfünfhundert Kilometer entfernt von Pompano Beach, Florida, wo sie beinahe ihr Leben verloren hätte. Henris Augen blitzen auf.
»Ich ging einen Pfad entlang«, beginnt sie. »Auf einer Seite waren Felsen, eine nackte Felswand ganz dicht am Weg. Sie hatte Risse, Risse zwischen den Steinen. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe mich hineingequetscht und bin stecken geblieben.« Ihr Atem stockt, und als sie sich das blonde Haar aus dem Gesicht schiebt, zittert ihre Hand. »Ich klemmte zwischen den Felsen fest … Ich konnte mich nicht bewegen, ich konnte nicht atmen. Und ich konnte nicht raus. Niemand hat es geschafft, mich zu befreien. Beim Duschen ist mir der Traum wieder eingefallen. Das Wasser schlug mir ins Gesicht, und als ich die Luft angehalten habe, habe ich mich an den Traum erinnert.«
»Hat jemand versucht, dich rauszuholen?« Benton geht nicht auf ihre Angst ein und fällt auch kein Urteil darüber, ob sie echt oder nur gespielt ist. Er kann es nicht sagen. Es gibt so vieles, was er an ihr nicht versteht.
»Du hast gerade erzählt, niemand hätte es geschafft, dich zu befreien«, sagt Benton im gelassenen Ton des Therapeuten. »War denn noch jemand da? Vielleicht mehrere Leute?«
»Ich weiß nicht.«
Er wartet.
»Ich erinnere mich nicht. Keine Ahnung, warum, aber einen Moment lang habe ich geglaubt, dass jemand … es ist mir eingefallen, in meinem Traum, dass jemand die Felsen vielleicht weghacken könnte. Und dann dachte ich, nein. Das Gestein ist viel zu hart. Niemand schafft das. Ich werde sterben. Ich wusste, dass ich sterben würde. Und dann hielt ich es nicht mehr aus, und der Traum war zu Ende.« Ihre verworrene Schilderung endet so schlagartig, wie es vermutlich auch bei dem Traum der Fall war. Henri holt tief Luft, und ihre Verkrampfung lockert sich. Ihr Blick richtet sich auf Benton. »Es war schrecklich.«