»Ja«, erwidert er. »Es muss entsetzlich gewesen sein. Ich kann mir nichts Beängstigenderes vorstellen, als keine Luft mehr zu bekommen.«
Sie legt die flache Hand aufs Herz. »Meine Brust konnte sich nicht bewegen. Ich habe keine Luft mehr gekriegt.«
Möglicherweise hat der Angreifer versucht, sie zu ersticken oder zu erwürgen. Benton stellt sich die Fotos vor und hält in Gedanken eines nach dem anderen hoch, um Henris Verletzungen in Augenschein zu nehmen und zu verstehen, was sie gerade gesagt hat. Er sieht Blut, das ihr aus der Nase läuft, auf ihren Wangen verschmiert ist und das Laken unter ihrem Kopf befleckt, als sie bäuchlings auf dem Bett liegt. Ihr Körper ist nackt und nicht zugedeckt; die Arme sind, mit den Handflächen nach unten, über den Kopf gestreckt, die Beine gebeugt, eines mehr als das andere.
Gerade ruft sich Benton ein anderes Foto ins Gedächtnis, als Henri aus ihrem Sessel aufsteht. Sie murmelt, dass sie sich einen Kaffee holen will. Benton hört ihre Ankündigung und denkt an die Pistole, die sich im Küchenschrank befindet. Allerdings weiß sie nicht, in welchem, weil sie ihm den Rücken zugekehrt hat, als er die Waffe verschwinden ließ. Er beobachtet sie und interpretiert, was sie tut, während er gleichzeitig die Hieroglyphen ihrer Verletzungen und der seltsamen Spuren auf ihrem Körper zu deuten versucht. Ihre Handrücken waren rot, weil er oder sie – Benton hat sich, was den Täter angeht, noch nicht auf ein Geschlecht festgelegt – sie gequetscht hat. Es befanden sich dort frische Blutergüsse, und sie hatte auch einige gerötete Stellen oben am Rücken. In den Tagen danach verfärbten sich die Rötungen, die von geplatzten subkutanen Blutgefäßen herrührten, in ein kräftiges Violett.
Benton sieht zu, wie Henri sich Kaffee eingießt. Er denkt an die Fotos ihres besinnungslosen Körpers am Tatort. Dass dieser Körper schön ist, ist für Benton nur insofern von Bedeutung, als dass alles an ihrem Aussehen und Verhalten die gewalttätige Reaktion des Menschen, der sie töten wollte, ausgelöst haben könnte. Henri ist schlank, aber ganz eindeutig nicht androgyn. Sie hat Brüste und Schamhaare und wäre für einen Pädophilen ganz sicher nicht anziehend. Zur Zeit des Überfalls hatte sie eine sexuelle Beziehung.
Er beobachtet, wie sie, beide Hände um die Kaffeetasse gelegt, zum Ledersessel zurückkehrt. Ihre Rücksichtslosigkeit stört ihn nicht, auch wenn ein höflicher Mensch wahrscheinlich gefragt hätte, ob er vielleicht auch noch einen Kaffee möchte. Aber Henri ist vermutlich die egoistischste und gefühlloseste Person, die Benton je begegnet ist. Sie war schon vor dem Überfall so und wird es immer bleiben. Es wäre wünschenswert, wenn sie sich in Zukunft von Lucy fern hielte. Doch er hat, wie er sich sagt, nicht das Recht, das zu verlangen.
»Henri«, sagt Benton. Er steht auf und holt sich selbst einen Kaffee. »Fühlst du dich heute Morgen in der Lage, die Fakten durchzugehen?«
»Ja. Aber ich kann mich nicht erinnern.« Ihre Stimme folgt ihm in die Küche. »Ich weiß, dass du mir nicht glaubst.«
»Wie kommst du darauf?« Er schenkt sich Kaffee ein und kehrt ins Wohnzimmer zurück.
»Der Arzt hat mir auch nicht geglaubt.«
»Oh, ja, der Arzt. Er sagte, dass er dir nicht glaubt«, meint Benton und nimmt wieder auf dem Sofa Platz. »Und obwohl du weißt, was ich von diesem Arzt halte, werde ich es noch einmal wiederholen. Für ihn sind alle Frauen hysterisch, und er mag sie nicht. Er empfindet eindeutig keinen Respekt vor ihnen, und das liegt daran, dass er Angst vor ihnen hat. Außerdem ist er Arzt in der Notaufnahme und hat keine Ahnung von Gewaltverbrechen und deren Opfern.«
»Er denkt, ich hätte mir die Verletzungen selbst zugefügt«, meint Henri zornig. »Er glaubt wohl, ich hätte nicht gehört, was er zu der Krankenschwester gesagt hat.«
Benton überlegt, wie er darauf reagieren soll. Henri rückt mit einer neuen Information heraus, und er kann nur hoffen, dass sie auch stimmt. »Erzähl es mir«, fordert er sie auf. »Mich würde brennend interessieren, was er zu der Krankenschwester gesagt hat.«
»Ich sollte das Arschloch verklagen«, fügt sie hinzu.
Benton wartet und trinkt seinen Kaffee.
»Vielleicht verklage ich ihn wirklich«, spricht sie trotzig weiter. »Er dachte, ich könnte ihn nicht hören, weil ich die Augen zuhatte, als er ins Zimmer kam. Ich lag im Halbschlaf da, die Schwester stand in der Tür, und dann erschien er. Also habe ich so getan, als wäre ich weggetreten.«
»Du hast dich schlafend gestellt«, meint Benton.
Sie nickt.
»Du bist ausgebildete Schauspielerin. Es war einmal dein Beruf.«
»Das ist es immer noch. Man hört nicht einfach auf, Schauspielerin zu sein. Ich bin zurzeit nur an keiner Produktion beteiligt, weil ich anderes zu tun habe.«
»Ich kann mir vorstellen, dass du schon immer eine gute Schauspielerin warst«, erwidert er.
»Ja.«
»Und du warst schon immer gut darin, dich zu verstellen.« Er hält inne. »Tust du häufig so als ob, Henri?«
Als sie ihn ansieht, wird ihr Blick hart. »Im Krankenhaus habe ich mich schlafend gestellt, um zu hören, was der Arzt sagt. Ich habe jedes Wort mitgekriegt. Er meinte: ›Es gibt nichts Besseres, als Vergewaltigung zu schreien, wenn man sauer auf jemanden ist. Dann muss er so richtig bluten.‹ Und anschließend hat er gelacht.«
»Ich kann gut verstehen, dass du ihn verklagen willst«, meint Benton. »Und das war in der Notaufnahme?«
»Nein, nein, in meinem Zimmer. Später am Tag, als sie mich nach den Untersuchungen auf eine Station verlegt haben. Ich weiß nicht mehr, auf welche.«
»Das ist ja noch schlimmer«, sagt Benton. »Er hätte gar nicht in dein Zimmer kommen dürfen. Schließlich arbeitet er in der Notaufnahme und nicht auf einer der Stationen. Er hat nur vorbeigeschaut, weil er neugierig war, und das ist nicht in Ordnung.«
»Ich werde ihn verklagen. Ich hasse ihn.« Wieder reibt sie ihre Zehe. Die Blutergüsse auf Zehe und Handrücken sind zu einem Nikotingelb verblasst. »Dann hat er eine Bemerkung über Dextro-Junkies gemacht. Ich weiß nicht, was das ist, aber er hat mich jedenfalls beleidigt.«
Wieder eine neue Information. In Benton wächst die Hoffnung, dass sie sich mit der Zeit und mit viel Geduld an mehr erinnern oder zumindest näher bei der Wahrheit bleiben wird. »Ein Dextro-Junkie ist jemand, der opiathaltige Allergie- und Grippemedikamente oder Hustensäfte missbraucht. Bei Jugendlichen sehr beliebt.«
»Dieses Arschloch«, murmelt sie und zupft an ihrem Morgenmantel herum. »Kannst du denn nichts tun, damit er Schwierigkeiten kriegt?«
»Henri, hast du irgendeine Ahnung, warum er angedeutet hat, du wärst vergewaltigt worden?«, fragt Benton.
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass es so war.«
»Erinnerst du dich an die Schwester?«
Sie schüttelt langsam den Kopf.
»Du wurdest in ein Untersuchungszimmer neben der Notaufnahme gebracht, wo eine Ausrüstung zur Sicherstellung von Beweisen benutzt wurde. Du weißt doch, was das ist, oder? Als du die Schauspielerei damals satt hattest, bist du zur Polizei gegangen. Dann, vor ein paar Monaten im Herbst, hat Lucy dich in Los Angeles kennen gelernt und dich eingestellt. Also hast du Erfahrung mit dem Nehmen von Abstrichen und dem Einsammeln von Haaren und Fasern und so weiter.«
»Ich hatte es nicht satt, sondern brauchte nur eine Pause, um etwas anderes zu tun.«
»Meinetwegen. Aber erinnerst du dich an die Sicherstellung der Beweise?«
Sie nickt.
»Und die Schwester? Man hat mir gesagt, sie sei sehr nett. Sie heißt Brenda. Sie hat dich auf Verletzungen durch ein Sexualverbrechen und auf Spuren untersucht. Da in diesem Raum auch Kinder behandelt werden, gibt es dort Plüschtiere. Die Tapete hat Winnie-Puh-Motive mit Bärchen, Honigtöpfen und Bäumen. Brenda trug keine Schwesterntracht, sondern hatte einen hellblauen Hosenanzug an.«