»Du warst nicht dabei.«
»Sie hat es mir am Telefon erzählt.«
Henri betrachtet ihre nackten Füße auf dem Sesselpolster. »Du hast sie gefragt, was sie anhatte?«
»Sie hat haselnussbraune Augen und kurzes schwarzes Haar«, versucht Benton freizulegen, was Henri tatsächlich oder angeblich verdrängt hat. Es ist Zeit, über die Sicherstellung der Spuren zu sprechen. »Es wurde keine Samenflüssigkeit gefunden, Henri. Keine Hinweise auf einen sexuellen Übergriff. Doch Brenda hat Fasern entdeckt, die an deiner Haut klebten. Offenbar hattest du irgendeine Lotion oder ein Körperöl aufgetragen. Weißt du noch, ob du dich an diesem Morgen eingecremt hast?«
»Nein«, erwidert sie leise. »Aber ich könnte auch nicht behaupten, dass es nicht so war.«
»Deine Haut war fettig«, sagt Benton. »Laut Brenda. Sie hat auch einen Geruch wahrgenommen, einen angenehmen Duft wie von einer parfümierten Körperlotion.«
»Er hat mich nicht eingerieben.«
»Er?«
»Es muss doch ein Er gewesen sein. Oder glaubst du, es war eine Sie?«, meint sie in einem gekünstelt hoffnungsfrohen Tonfall, sodass sich ihre Stimme anhört wie die eines Menschen, der entweder sich selbst oder anderen etwas vormachen will. »Eine Sie kann es nicht gewesen sein. Eine Frau. Frauen tun so was nicht.«
»Frauen tun alles Mögliche. Im Augenblick wissen wir noch nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war. Auf der Matratze im Schlafzimmer wurden einige Kopfhaare gefunden. Schwarz, lockig und etwa fünfzehn bis achtzehn Zentimeter lang.«
»Tja, dann erfahren wir es ja bald, stimmt’s? Man kann aus den Haaren die DNS herauslösen und feststellen, dass es keine Frau war«, sagt sie.
»Ich fürchte, das geht nicht. Die durchgeführte DNS-Untersuchung kann das Geschlecht nicht bestimmen. Vielleicht die Rasse, aber nicht das Geschlecht. Und sogar das wird mindestens einen Monat dauern. Glaubst du, du könntest die Körperlotion selbst aufgetragen haben?«
»Nein. Aber er war es auch nicht. Das hätte ich nie zugelassen. Ich hätte mich gegen ihn gewehrt, wenn das möglich gewesen wäre. Vielleicht wollte er es ja tun.«
»Und du hast dich auch nicht selbst eingecremt?«
»Ich habe doch schon nein gesagt, genügt das denn nicht? Außerdem geht es dich nichts an.«
Benton versteht. Wenn Henri die Wahrheit sagt, hat die Lotion nichts mit dem Übergriff zu tun. Als er an Lucy denkt, wird er gleichzeitig von Mitleid und Wut ergriffen.
»Erzähl du es mir«, fordert Henri ihn auf. »Erzähl mir, was deiner Ansicht nach mit mir passiert ist. Du schilderst mir, was geschehen ist, und ich sage dann, ob es stimmt oder nicht.« Sie lächelt plötzlich.
»Lucy kam nach Hause«, beginnt Benton. »Es war ein paar Minuten nach zwölf Uhr mittags, und als sie die Vordertür aufschloss, bemerkte sie sofort, dass die Alarmanlage nicht eingeschaltet war. Sie hat nach dir gerufen, und als du nicht geantwortet hast und sie hörte, wie die Hintertür, die zum Pool führt, gegen den Türpfosten schlug, ist sie dorthin gelaufen. In der Küche sah sie, dass die Tür zum Pool weit offen stand.«
Henri starrt wieder mit aufgerissenen Augen an Benton vorbei und aus dem Fenster. »Ich wünschte, sie hätte ihn getötet.«
»Sie hat ihn nie zu Gesicht bekommen. Vermutlich hat die Person gehört, wie sie in ihrem schwarzen Ferrari vorfuhr, und ist abgehauen …«
»Er war doch bei mir im Zimmer und musste zuerst die vielen Stufen hinunter«, unterbricht Henri, während sie weiter ins Leere blickt. Diesmal hat Benton das Gefühl, dass sie die Wahrheit sagt.
»Lucy hat nicht in der Garage geparkt, da sie nur kurz vorbeikommen wollte, um nach dir zu sehen«, spricht Benton weiter. »Also hat sie die Vordertür rasch erreicht und ist hereingekommen, während er durch die Hintertür geflüchtet ist. Sie hat ihn nicht verfolgt, weil er zu schnell für sie war. Außerdem hat sich Lucy in diesem Moment mehr für dich interessiert als für den Menschen, der ins Haus eingedrungen ist.«
»Das stimmt nicht«, meint Henri, beinahe triumphierend.
»Dann erzähl mir, wie es war.«
»Sie ist nicht in ihrem schwarzen Ferrari gekommen. Der stand in der Garage. Sondern mit dem blauen. Der parkte vor dem Haus.«
Weitere neue Informationen. Benton bleibt ruhig und gibt sich lässig. »Bist du sicher, dass du weißt, mit welchem Auto sie an diesem Tag gefahren ist?«
»Das weiß ich immer. Sie hat den schwarzen Ferrari nicht gefahren, weil er beschädigt war.«
»Wie ist das passiert?«
»Er hat auf einem Parkplatz was abgekriegt«, erwidert Henri und betrachtet wieder ihre lädierte Zehe. »Du kennst doch das Fitness-Studio in der Atlantic Avenue, oben in Coral Springs, wo wir manchmal trainieren gehen.«
»Weißt du, wann das geschehen ist?«, erkundigt sich Benton, ohne sich seine Aufregung anmerken zu lassen. Diese Information ist neu und wichtig, und er ahnt, wohin sie führen wird. »Der schwarze Ferrari wurde beschädigt, während du im Fitness-Studio warst?«, drängt er sie, die Wahrheit zu sagen.
»Ich habe nie gesagt, dass ich im Fitness-Studio war«, zischt sie, und ihr feindseliger Ton bestätigt seinen Verdacht.
Sie ist mit Lucys schwarzem Ferrari ins Fitness-Studio gefahren, und zwar offenbar ohne Lucys Erlaubnis. Niemand darf den schwarzen Ferrari benutzen, nicht einmal Rudy.
»Erzähl mir von dem Schaden«, sagt Benton.
»Er war zerkratzt, mit einem Autoschlüssel oder so. Jemand hat ein Bild hineingeritzt.« Sie starrt auf ihre Füße und fummelt an der gelblich angelaufenen großen Zehe herum.
»Was stellte das Bild dar?«
»Danach wollte sie ihn nicht mehr fahren. Man fährt nicht in einem zerkratzten Ferrari herum.«
»Bestimmt war Lucy sauer«, meint Benton.
»Das kann man doch reparieren. Alles kann man reparieren. Wenn sie ihn umgebracht hätte, brauchte ich nicht hier zu sein. Jetzt muss ich den Rest meines Lebens Angst haben, dass er mich wieder aufspürt.«
»Ich tue mein Bestes, damit du dir deshalb keine Sorgen zu machen brauchst, Henri. Aber du musst mir helfen.«
»Vielleicht erinnere ich mich ja nie.« Sie sieht ihn an. »Dagegen kann ich nichts tun.«
»Lucy ist drei Treppen hinauf ins Schlafzimmer gerannt. Dort warst du«, sagt Benton. Dabei mustert er sie eindringlich, um sicherzugehen, dass sie seine Schilderung verkraftet, auch wenn sie diesen Teil schon mal gehört hat. Die ganze Zeit über hat er befürchtet, dass es keine Schauspielerei ist und dass alles, was sie sagt und tut, der Wahrheit entspricht. Aber was ist, wenn es sich nicht so verhält? Genauso gut könnte sie endgültig mit der Realität brechen, psychotisch werden und vollständig durchdrehen. Sie hört zwar zu, aber ihr Verhalten ist merkwürdig. »Als Lucy dich fand, warst du bewusstlos, doch Atmung und Herzschlag waren normal.«
»Ich hatte nichts an.« Dieses Detail stört sie nicht. Es macht ihr Spaß, ihn an ihren nackten Körper zu erinnern.
»Schläfst du oft nackt?«
»Das tue ich gerne.«
»Erinnerst du dich, ob du deinen Pyjama ausgezogen hast, bevor du an diesem Vormittag wieder ins Bett gegangen bist?«
»Wahrscheinlich schon.«
»Also war es nicht der Angreifer. Mal angenommen, dass es ein Mann ist.«
»Das brauchte er nicht mehr. Allerdings bin ich sicher, dass er es getan hätte.«
»Lucy sagt, als sie dich zuletzt gesehen hat, also gegen acht Uhr morgens, hättest du einen roten Satinpyjama und einen hellbraunen Morgenmantel aus Frottee angehabt.«
»Stimmt. Weil ich rausgehen wollte. Ich habe mich in einen Liegestuhl am Pool in die Sonne gesetzt.«
Wieder neue Informationen, und er schiebt eine Frage hinterher: »Um wie viel Uhr war das?«
»Gleich nachdem Lucy weg war, glaube ich. Sie ist im blauen Ferrari losgefahren. Tja, nicht gleich«, verbessert sie sich in ausdruckslosem Tonfall und starrt in die schneebedeckte Landschaft hinaus, die in der Morgensonne funkelt. »Ich war sauer auf sie.«