Benton steht langsam auf und legt einige Scheite ins Feuer. Funken stieben im Kamin, und die Flammen lecken gierig am staubtrockenen Holz. »Sie hat dich gekränkt«, meint er und zieht das Kamingitter zu.
»Lucy ist nicht sehr nett, wenn man krank wird«, entgegnet Henri und wirkt wieder konzentrierter und sachlicher. »Sie wollte mich nicht pflegen.«
»Was ist mit der Körperlotion?«, fragt er. Er kann sich zwar seinen Teil denken und ist sicher, dass seine Theorie stimmt, hält es jedoch für klug, auf Nummer sicher zu gehen.
»Na und? Ist doch nicht weiter wichtig, oder? Das war nur ein Gefallen. Weißt du, wie viele Leute danach lechzen würden, es zu tun? Ich habe sie gelassen, um ihr einen Gefallen zu tun. Sie macht nämlich nur das absolute Minimum, und auch das bloß, wenn es ihr in den Kram passt. Und dann hat sie genug davon, sich um mich zu kümmern. Ich hatte Kopfschmerzen, und wir haben uns gestritten.«
»Wie lange hast du am Pool gesessen?«, erkundigt sich Benton. Er gibt sich Mühe, sich nicht durch Gedanken an Lucy ablenken zu lassen und sich nicht zu fragen, wo sie nur ihren Kopf hatte, als sie Henri Waiden begegnete. Gleichzeitig jedoch ist ihm klar, welchen Charme Soziopathen versprühen können und dass sie selbst Menschen um den Finger wickeln, die es eigentlich besser wissen müssten.
»Nicht lange, es ging mir nicht gut.«
»Eine Viertelstunde? Eine halbe?«
»Schätzungsweise eine halbe Stunde.«
»Hast du andere Leute gesehen? Oder Boote?«
»Mir ist nichts aufgefallen. Vielleicht waren da ja auch keine. Was hat Lucy gemacht, als sie in mein Zimmer kam?«
»Sie hat die Notrufnummer gewählt, immer wieder nachgesehen, ob du noch lebst, und auf den Rettungswagen gewartet«, erwidert Benton. Er beschließt, ein weiteres Detail hinzuzufügen, obwohl das gefährlich ist. »Und sie hat fotografiert.«
»Hatte sie eine Pistole?«
»Ja.«
»Ich wünschte, sie hätte ihn getötet.«
»Du sagst immer ›er‹.«
»Und sie hat Fotos gemacht? Von mir?«, fragt Henri.
»Du warst zwar bewusstlos, aber dein Zustand war stabil. Also hat sie dich fotografiert, bevor sie dich weggebracht haben.«
»Weil ich aussah, als ob ich angegriffen worden wäre?«
»Weil dein Körper in einer ungewöhnlichen Stellung dalag, Henri. Und zwar so.« Er streckt die Arme aus und hält sie über den Kopf. »Du hast auf dem Bauch gelegen, die Arme von dir gestreckt und mit den Handflächen nach unten. Außerdem hattest du Nasenbluten und warst voller Blutergüsse, wie du ja weißt. Und deine rechte große Zehe war gebrochen, auch wenn das erst später festgestellt wurde. Offenbar weißt du nicht mehr, wie du sie dir gebrochen hast.«
»Vielleicht habe ich sie mir gestoßen, als ich die Treppe runtergegangen bin«, sagt sie.
»Erinnerst du dich daran?«, fragt er, da sie bis jetzt im Zusammenhang mit ihrer Zehe nichts erzählt hat. »Wann könnte das passiert sein?«
»Als ich beim Pool war. Die Steinstufen. Kann sein, dass ich über eine Stufe gestolpert bin, wegen der vielen Medikamente oder weil ich Fieber hatte. Ich weiß noch, dass ich geweint habe. Daran erinnere ich mich. Weil es wehgetan hat. Ich habe überlegt, ob ich sie anrufen soll, es dann aber gelassen. Sie mag es nicht, wenn ich krank bin.«
»Du hast dir die Zehe auf dem Weg zum Pool gebrochen und hast überlegt, ob du Lucy anrufen sollst, es aber nicht getan.« Er will keine Missverständnisse aufkommen lassen.
»Stimmt«, entgegnet sie spöttisch. »Wo waren mein Pyjama und mein Morgenmantel?«
»Ordentlich zusammengefaltet auf einem Stuhl neben dem Bett. Hast du sie zusammengefaltet und dort hingelegt?«
»Vermutlich. War ich zugedeckt?«
Er weiß, worauf sie hinauswill, aber es ist wichtig, ihr die Wahrheit zu sagen. »Nein«, antwortet er. »Die Decke war zum Fußende des Bettes gezogen worden und hing von der Matratze.«
»Ich hatte nichts an, und sie hat mich fotografiert«, sagt Henri, und ihr Gesicht ist ausdruckslos, als sie ihn mit harten, undurchdringlichen Augen ansieht.
»Ja«, erwidert Benton.
»Typisch für sie, so was zu tun. Sie ist und bleibt ein Cop.«
»Du bist auch ein Cop, Henri. Was hättest du an ihrer Stelle getan?«
»Typisch für sie«, wiederholt sie nur.
8
»Wo bist du?«, fragt Marino, nachdem er im Display seines vibrierenden Mobiltelefons Lucys Nummer erkannt hat. »Wo steckst du gerade?« Das will er immer von ihr wissen, auch wenn es nicht von Belang ist.
Marino hat sein ganzes Erwachsenenleben mit der Verbrechensbekämpfung verbracht, und der Aufenthaltsort eines Menschen ist ein Detail, das ein guter Polizist niemals übersieht. Es nützt überhaupt nichts, zum Funkgerät zu greifen und »Mayday« zu brüllen, wenn man keine Ahnung hat, wo man sich befindet. Marino betrachtet sich als Lucys Mentor, und das lässt er sie nicht vergessen, obwohl sie selbst ihn schon seit Jahren nicht mehr so sieht.
»Atlantic Boulevard«, hört er Lucys Stimme im rechten Ohr. »Ich sitze im Auto.«
»Wär ich nie drauf gekommen, Sherlock. Du klingst, als würdest du in einem Müllcontainer hocken.« Marino lässt sich keine Gelegenheit entgehen, sie wegen ihrer Autos aufzuziehen.
»Neid ist eine so hässliche Eigenschaft«, gibt sie zurück.
Er entfernt sich ein paar Schritte vom Kaffeeautomaten in der Gerichtsmedizin und blickt sich um, bis er sich vergewissert hat, dass niemand sein Gespräch belauscht. »Pass auf, hier bei uns läuft es nicht so gut.« Er späht dabei durch das kleine Fenster in der Bibliothekstür, um festzustellen, ob sich jemand im Raum befindet. Alles menschenleer. »Der Laden ist ganz schön den Bach runtergegangen«, sagt er in sein winziges Mobiltelefon. »Ich wollte dich nur auf dem Laufenden halten.«
»Auf dem Laufenden halten? Sehr komisch«, entgegnet Lucy nach einer Pause. »Was soll ich für dich tun?«
»Verdammt, ist dieses Auto laut.« Beim Auf-und-ab-Gehen huschen seine Augen unablässig unter dem Schirm der LAPD-Baseballkappe hin und her, die Lucy ihm geschenkt hat.
»Gut, jetzt hast du es geschafft, dass ich mir Sorgen mache«, überbrüllt sie das Dröhnen ihres Ferrari. »Als du erzählt hast, es wäre nichts Großes, hätte ich gleich wittern müssen, dass es Probleme geben wird. Mist. Ich habe dich gewarnt. Ich habe euch beide gewarnt, keinen Fuß mehr in diese Stadt zu setzen.«
»Es geht nicht nur um das tote Mädchen«, erwidert er leise. »Darauf will ich hinaus. Eigentlich geht es überhaupt nicht um die Kleine. Damit möchte ich natürlich nicht sagen, dass sie nicht das Hauptproblem wäre. Aber hier ist noch etwas im Busch. Unser gemeinsamer Freund« – damit meint er Benton – »hat sich da unmissverständlich ausgedrückt. Und du kennst sie ja.« Jetzt spricht er von Scarpetta. »Sie wird sich ordentlich Ärger einhandeln.«
»Etwas ist im Busch? Was denn? Gib mir einen Wink.« Lucys Tonfall verändert sich. Wenn sie sehr ernst ist, wird ihre Stimme zäh und starr und erinnert Marino an trocknenden Klebstoff.
Falls es in Richmond zu Problemen kommen sollte, denkt Marino, gibt es für ihn kein Entrinnen. Lucy wird ihm ordentlich die Leviten lesen. »Ich muss dir mal was sagen, Boss«, fährt er fort. »Einer der Gründe, warum ich noch lebendig rumlaufe, ist, dass ich Instinkte habe.«
Marino nennt sie Boss, als ob es ihm nichts ausmachen würde, dass sie sein Chef ist, obwohl ihm nichts ferner liegt als das. Insbesondere dann, wenn seine berüchtigten Instinkte ihn warnen, dass er sich einen Rüffel von ihr einhandeln wird. »Und meine Instinkte brüllen mich geradezu an, Boss«, fährt er fort, wohl wissend, dass Lucy und ihre Tante Kay Scarpetta es sofort als Unsicherheit deuten, wenn er großspurig wird, mit seinen Instinkten prahlt oder Frauen in Machtpositionen Boss, Sherlock oder noch Schlimmeres nennt. Aber er ist machtlos dagegen, auch wenn er die Situation dadurch nicht gerade verbessert. »Und ich setze noch einen drauf«, fährt er fort. »Ich hasse diese stinkende Stadt. Verdammt, ich hasse dieses Drecksnest. Weißt du, was mit dieser Scheißstadt nicht stimmt? Kein Mensch hier hat Respekt.«