»Ich sage jetzt nicht, dass ich dich ja gewarnt habe«, reibt Lucy ihm unter die Nase. Ihr Tonfall wird immer trockener. »Sollen wir kommen?«
»Nein«, antwortet er, und es ärgert ihn, dass Lucy sofort glaubt, sie müsse etwas unternehmen, wenn er ihr sagt, was er denkt. »Im Moment will ich dich nur auf dem Laufenden halten, Boss«, wiederholt er und wünscht, er hätte Lucy gar nicht angerufen. Es war ein Fehler, sich bei ihr zu melden, denkt er. Aber wenn sie rauskriegen sollte, dass ihre Tante in Schwierigkeiten steckt und er kein Wort darüber verloren hat, würde sie ihm ordentlich die Hölle heiß machen.
Bei ihrer ersten Begegnung war sie zehn Jahre alt. Zehn. Eine pummelige kleine Göre mit Brille und einem schrecklichen Benehmen. Anfangs konnten sie einander nicht ausstehen. Dann änderte sich alles, und sie begann, ihn als Helden zu verehren. Sie wurden Freunde. Er hatte Spaß daran, ihr im Laufe der Jahre das Auto- und Motorradfahren, das Schießen und das Biertrinken beizubringen und ihr zu erklären, woran man es erkennt, wenn jemand lügt. Die wichtigen Dinge im Leben eben. Damals hatte er noch keine Angst vor ihr. Vielleicht ist Angst ja nicht das richtige Wort, um seine Gefühle zu beschreiben, aber Lucy hat im Gegensatz zu ihm Macht. Wenn er nach einem Telefonat mit ihr den Hörer auflegt, fühlt er sich meistens niedergeschlagen und uneins mit sich selbst. Sie kann tun und lassen, was ihr gefällt, und hat trotzdem Geld und die Möglichkeit, andere Menschen herumzukommandieren. Er nicht. Nicht einmal als Polizeibeamter konnte er seine Macht so offen zur Schau stellen wie sie. Doch er will keine Angst vor ihr haben, sagt er sich. Auf keinen Fall, verdammt.
»Wir kommen, falls du uns brauchst«, sagt Lucy am Telefon. »Allerdings ist der Zeitpunkt ungünstig. Ich stecke hier mitten in einer Sache und bin voll damit beschäftigt.«
»Ich sagte doch, dass du nicht zu kommen brauchst«, knurrt Marino. Seine Brummigkeit war schon immer der Zaubertrick, mit dem er die Menschen zwingt, sich mehr Gedanken über ihn und seine Launen zu machen als über sich selbst und ihre eigenen Gefühle. »Ich wollte dir nur erzählen, was los ist, mehr nicht. Ich komme auch ohne dich zurecht. Du kannst hier nichts tun.«
»Gut«, erwidert Lucy. Brummigkeit funktioniert bei ihr nicht mehr, was Marino immer wieder vergisst. »Ich muss weiter.«
9
Als Lucy mit dem linken Zeigefinger die Schaltwippe berührt, schaltet der Motor mit einem Dröhnen auf tausend Umdrehungen, und der Wagen wird langsamer. Ihr Sonarradar zirpt, und der Radarwarner blinkt rot, ein Hinweis darauf, dass irgendwo auf der Strecke Polizisten mit einem Radargerät lauern.
»Ich rase nicht«, sagt sie zu Rudy Musil, der auf dem Beifahrersitz neben dem Feuerlöscher sitzt und den Tacho beobachtet. »Nicht mal zehn Kilometer schneller als erlaubt.«
»Ich hab doch gar nichts gesagt«, erwidert er und wirft einen Blick in den Seitenspiegel.
»Lass mich sehen, ob ich Recht habe.« Sie bleibt im vierten Gang und fährt nur etwas über sechzig Kilometer pro Stunde. »An der nächsten Kreuzung lauert ein Streifenwagen auf uns Provinzler, die es nicht erwarten können, zum Strand zu kommen, um uns zu zeigen, was eine Harke ist.«
»Was ist mit Marino los? Lass mich raten«, spricht Rudy weiter. »Ich soll meinen Koffer packen.«
Beide beobachten weiter aufmerksam die Umgebung, schauen in sämtliche Spiegel, mustern andere Autos und nehmen jede Palme, jeden Fußgänger und jedes Gebäude in dieser brettebenen, von Ladenzeilen mit angrenzenden Parkplätzen geprägten Landschaft wahr. Auf dem Atlantic Boulevard in Pompano Beach, nördlich von Fort Lauderdale, ist der Verkehr im Moment spärlich und verhältnismäßig ruhig.
»Ja«, entgegnet Lucy. »Und auf geht’s.« Sie passieren einen blauen Ford LTD, der gerade von der Powerline Road rechts abgebogen ist; an der Kreuzung befinden sich ein Eckerd’s-Drogeriemarkt und eine Discount-Metzgerei. Der Ford, ein ziviles Polizeifahrzeug, fädelt sich hinter ihr in die linke Spur ein.
»Du hast ihn neugierig gemacht«, meint Rudy.
»Tja, für Neugier wird er aber nicht bezahlt«, entgegnet sie gereizt, als der Ford ihr folgt. Sie weiß genau, dass der Cop nur darauf wartet, einen Grund zu bekommen, das Blaulicht einzuschalten und den Wagen und das junge Paar darin zu kontrollieren. »Schau dir das an. Die Leute überholen mich schon rechts, und bei dem Auto da vorne ist die Inspektionsplakette abgelaufen.« Sie zeigt mit dem Finger darauf. »Aber der Cop interessiert sich mehr für mich.«
Sie hört auf, im Rückspiegel Ausschau nach ihm zu halten, und wünscht, Rudy wäre nicht so bedrückter Stimmung. Seit sie ein Büro in Los Angeles eröffnet hat, wirkt er niedergeschlagen. Sie weiß zwar nicht, warum, aber offenbar hat sie seinen Ehrgeiz und seine Bedürfnisse im Leben falsch eingeschätzt. Sie hat angenommen, dass Rudy ein Hochhaus am Wilshire Boulevard gefallen würde, wo die Aussicht so phantastisch ist, dass man an klaren Tagen Catalina Island erkennen kann. Aber sie hat sich in ihm geirrt, so sehr geirrt wie bis jetzt noch nie in ihrem Leben.
Von Süden zieht eine Gewitterfront heran. Der Himmel ist in Schichten aufgeteilt, die von dichtem Dunst zu sonnendurchflutetem Perlgrau changieren. Kühlere Luft schiebt den Regen fort, der heute hin und wieder vom Himmel geprasselt ist und Pfützen hinterlassen hat, die lautstark gegen den Unterboden von Lucys tief liegendem Wagen schwappen. Dicht vor ihnen schwirrt ein Schwarm umherziehender Möwen über die Straße. Die Vögel stieben wild durcheinander in alle Richtungen. Lucy fährt weiter, den zivilen Polizeiwagen beharrlich hinter sich.
»Marino hatte nicht viel zu sagen«, beantwortet sie Rudys Frage von vorhin. »Nur, dass in Richmond etwas im Busch ist. Wie immer ist meine Tante voll ins Fettnäpfchen getreten.«
»Ich habe mitgekriegt, wie du angeboten hast zu kommen. Ich dachte, sie sollte die Leute dort nur in einem Fall beraten. Was ist denn los?«
»Keine Ahnung, ob wir etwas unternehmen müssen. Das wird sich zeigen. Der dortige Chef, ich kann mir seinen Namen einfach nicht merken, hat sie gebeten, ihm bei einem Fall zu helfen. Ein Kind, ein Mädchen, ist plötzlich gestorben, und er hat keine Ahnung, warum. Seine Mitarbeiter kommen auch nicht weiter, keine große Überraschung also. Er ist noch nicht einmal vier Monate im Amt und versucht, das erste große Problem, mit dem er konfrontiert wird, abzuwälzen. Also ruft er meine Tante an. Hey, was halten Sie davon, herzukommen und sich mit diesem Mist rumzuschlagen, damit ich mir die Hände nicht schmutzig machen muss? Verstehst du? Ich habe ihr geraten, die Finger davon zu lassen, und jetzt scheint es tatsächlich Ärger zu geben. Große Überraschung. Ich weiß nicht. Ich habe ihr gesagt, sie soll einen Bogen um Richmond machen, aber sie hört einfach nicht auf mich.«
»Sie hört ungefähr genauso auf dich wie du auf sie«, merkt Rudy an.
»Weißt du was? Ich mag diesen Typen nicht.« Lucy betrachtet den zivilen Ford im Rückspiegel.
Er klebt ihr immer noch an der Stoßstange. Hinter dem Steuer sitzt eine dunkelhäutige Person, vermutlich ein Mann. Doch Lucy kann das nicht richtig sehen, und sie will nicht den Eindruck erwecken, dass sie sich für den Fahrer interessiert oder ihn überhaupt wahrnimmt. Dann fällt ihr etwas auf.
»Verdammt, bin ich blöd!«, ruft sie ungläubig. »Mein Radar gibt kein Signal. Wo habe ich nur meinen Kopf? Das Ding hat keinen Mucks gemacht, seit der Wagen hinter uns herfährt. Es ist kein Zivilauto mit Radar. Und es verfolgt uns trotzdem.«
»Immer mit der Ruhe«, erwidert Rudy. »Fahr einfach weiter, und achte nicht auf ihn. Wahrscheinlich nur irgendein Typ, der sich dein Auto anschauen will. Das hat man davon, wenn man in solchen Kisten rumkurvt. Das predige ich dir ja immer wieder. Mist.«
Früher hat Rudy ihr nie Vorträge gehalten. Vor vielen Jahren haben sie sich an der FBI-Akademie kennen gelernt und sind erst Kollegen, dann Partner und schließlich Freunde geworden. Damals hat er sie persönlich und beruflich so geschätzt, dass er kurz nach ihr den Feds den Rücken gekehrt und in ihrer Firma Das Letzte Revier angeheuert hat, die man als international operierende Privatdetektei bezeichnen könnte.