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Scarpetta biegt langsam um die Ecke des Häuserblocks, der in einer Phase, die ihr inzwischen endgültig abgeschlossen erscheint, ihr Lebensmittelpunkt gewesen ist. Staubwolken steigen auf, als Maschinen sich wie riesige gelbe Insekten auf den Kadaver ihres früheren Arbeitsplatzes stürzen. Metallklingen und Schaufeln klappern und wummern gegen Beton und Erdreich. Lastwagen und Maschinen, die Erde bewegen, rollen und rucken hin und her. Reifen zermalmen und Stahlgürtel zerren.

»Tja«, sagt Scarpetta. »Ich bin froh über die Gelegenheit, das sehen zu können. Aber trotzdem hätte es mir jemand erzählen sollen.«

Pete Marino, ihr Beifahrer, beobachtet schweigend, wie das gedrungene, schäbige Gebäude am Rand des Bankenviertels abgerissen wird.

»Und ich freue mich, dass du es auch siehst, Captain«, fügt sie hinzu, obwohl er gar kein Captain mehr ist. Wenn sie ihn Captain nennt, was nicht oft passiert, will sie besonders nett zu ihm sein.

»Genau, was der Arzt mir verschrieben hat«, murmelt er in dem sarkastischen Tonfall, der in seinen meisten Äußerungen mitschwingt wie das Schlüssel-C auf dem Klavier. »Und du hast Recht. Jemand hätte es dir erzählen sollen, und dieser Jemand ist der schwanzlose Kerl, der jetzt auf deinem Stuhl sitzt. Er bettelt dich an, herzufliegen, obwohl du seit fünf Jahren keinen Fuß nach Richmond gesetzt hast, und dann macht er sich nicht einmal die Mühe, dir zu sagen, dass dein altes Büro abgerissen wird.«

»Bestimmt hat er nicht dran gedacht«, erwidert sie.

»Der kleine Wichser«, gibt Marino zurück. »Er ist mir jetzt schon unsympathisch.«

Heute Morgen hat sich Marino mit voller Absicht so ausstaffiert, dass er verschiedene bedrohliche Botschaften ausstrahlt: schwarze Cargohose, schwarze Polizeistiefel, eine schwarze Regenjacke und eine Baseballkappe mit der Aufschrift LAPD, Los Angeles Police Department. Scarpetta ist klar, dass er wie ein cooler Großstädter aussehen will, der mit allen Wassern gewaschen ist, um sich von den Leuten hier abzugrenzen. Immer noch ist er sauer auf die Einwohner dieser sturen Kleinstadt, die ihn während seiner Zeit als Detective bei der hiesigen Polizei schikaniert, dumm angeredet oder herumkommandiert haben. Nur selten kommt ihm die Erkenntnis, dass er es auch verdient haben könnte, wenn er wieder einmal verwarnt, suspendiert, versetzt oder degradiert wurde, und dass er die Unhöflichkeit seiner Mitmenschen normalerweise selbst herausfordert.

Scarpetta findet, dass Marino, wie er so, die Sonnenbrille auf der Nase, in seinem Sitz hängt, ein wenig albern aussieht, denn sie weiß, wie sehr er Prominente im Allgemeinen und die Unterhaltungsindustrie im Besonderen verabscheut. Diese Abneigung erstreckt sich auch auf Leute, einschließlich Polizisten, die zu dieser Welt unbedingt dazugehören wollen. Die Kappe war ein witzig gemeintes Geschenk von ihrer Nichte Lucy, die vor kurzem ein Büro in Los Angeles – oder »Lost Angeles«, wie Marino es nennt – eröffnet hat. Jetzt kehrt Marino in seine eigene verlorene Stadt Richmond zurück und hat seinen Gastauftritt so choreographiert, dass er dabei wie das genaue Gegenteil dessen aussieht, was er ist.

»Hmm«, brummt er, ein wenig leiser, »das war’s dann wohl mit Aspen. Bestimmt ist Benton ziemlich sauer.«

»Genau genommen arbeitet er an einem Fall«, erwidert sie. »Also ist es wahrscheinlich sogar das Beste, wenn wir es um ein paar Tage verschieben.«

»Ein paar Tage, dass ich nicht lache. Ein paar Tage reichen nie. Ich wette, dass du es nicht nach Aspen schaffst. An was für einem Fall arbeitet er denn?«

»Das hat er nicht gesagt, und ich habe auch nicht nachgefragt«, antwortet sie und hat nicht vor, weiter über dieses Thema zu reden.

Marino schaut aus dem Fenster und schweigt eine Weile, sodass sie fast hören kann, wie er über ihre Beziehung mit Benton Wesley nachdenkt. Sie weiß, dass Marino sich Gedanken über sie beide macht, vermutlich ununterbrochen und auf eine Art und Weise, die ihm nicht ansteht. Irgendwie ahnt er, dass sie sich von Benton entfernt hat, und zwar körperlich, seit sie wieder zusammen sind. Es ärgert und demütigt sie, dass Marino so etwas spüren kann. Sie will nicht darüber grübeln, warum sie nicht mit ihm nach Aspen gefahren ist und was sie deshalb versäumen könnte. In all den Jahren, die Benton fort war, ist auch ein Teil von ihr fort gewesen. Als Benton dann wieder auftauchte, ist dieser Teil von ihr trotzdem nicht zurückgekommen, und sie hat keine Ahnung, warum.

»War vermutlich Zeit, dass diese Falle abgerissen wird«, sagt Marino und blickt aus dem Beifahrerfenster auf das geschundene Gebäude. »Wahrscheinlich machen sie es wegen Amtrak. Ich glaube, ich habe gehört, dass sie hier ein neues Parkhaus brauchen, weil sie den Bahnhof an der Main Street wieder eröffnen wollen. Ich habe vergessen, wer mir das erzählt hat. Ist schon eine Weile her.«

»Wäre nett gewesen, wenn du es mir gesagt hättest«, erwidert sie.

»Es ist schon eine Weile her, und ich erinnere mich nicht einmal mehr, von wem ich es habe.«

»Trotzdem wäre es nett, wenn ich Informationen wie diese bekäme.«

Er sieht sie an. »Ich kann es dir nicht verdenken, dass du schlechte Laune hast. Ich habe ich dich ja davor gewarnt, herzukommen. Der Abriss ist ein Omen, wenn du mich fragst. Außerdem fährst du gleich Schritttempo. Vielleicht solltest du mal Gas geben.«

»Ich habe keine schlechte Laune«, entgegnet sie. »Aber ich bin nun mal gern über alles im Bilde.« Sie fährt langsam weiter und betrachtet dabei das Gebäude, in dem früher ihr Arbeitsplatz war.

»Ich sage dir, es ist ein Omen«, wiederholt er, blickt sie an und starrt dann wieder aus dem Fenster.

Anstatt Gas zu geben, beobachtet Scarpetta weiter den Zerstörungsprozess. Langsam dämmert ihr die Wahrheit, und zwar etwa in demselben Tempo, in dem sie um den Häuserblock fährt. Das frühere Büro des Chefpathologen und die Labors der Gerichtsmedizin müssen einem Parkhaus für den restaurierten Bahnhof an der Main Street weichen, wo in dem Jahrzehnt, als sie und Marino hier gearbeitet haben, kein einziger Zug gehalten hat. Das gewaltige gotische Bahnhofsgebäude besteht aus einem Stein, der die Farbe getrockneten Blutes hat. Viele Jahre lang hat es im Dornröschenschlaf gelegen, nur unterbrochen von gelegentlichen Zuckungen, als es erst zum Einkaufszentrum umfunktioniert wurde – das bald Pleite machte – und später die Büros von Behörden beherbergte, die ebenso rasch wieder umzogen. Sein hoher Turm mit der Uhr galt als Wahrzeichen am Horizont und wachte über die geschwungenen Kurven des Highway I-95 und der Eisenbahnbrücken, ein geisterhaft bleiches Zifferblatt mit filigranen Zeigern, auf dem die Zeit stehen geblieben war.

Richmond hat sich ohne Scarpetta weiterentwickelt. Der Bahnhof an der Main Street wurde wieder zum Leben erweckt und ist nun ein Knotenpunkt für die Züge der Amtrak. Die Uhr funktioniert. Es ist sechzehn Minuten nach acht. In all den Jahren, in denen Scarpetta die Uhr in verschiedenen Rückspiegeln gesehen hat, als sie kreuz und quer durch die Stadt fuhr, um sich um die Toten zu kümmern, hat sie nie die richtige Zeit angezeigt. Das Leben in Virginia ist weitergegangen, und niemand hat sich die Mühe gemacht, sie davon in Kenntnis zu setzen.