»Ich weiß nicht, was ich erwartet habe«, sagt sie und schaut aus dem Seitenfenster. »Vielleicht, dass sie es entkernen und als Lagerhaus, Archiv oder Materialkammer verwenden. Aber gleich abreißen!«
»Eigentlich ist es das Beste so«, verkündet Marino.
»Keine Ahnung, warum, aber ich hätte nie gedacht, dass sie es wirklich tun.«
»Es gehört nicht unbedingt zu den architektonischen Weltwundern«, entgegnet er und ist plötzlich wütend auf das alte Gebäude. »Ein beschissener Betonhaufen aus den Siebzigern. Denk an all die Ermordeten, die dort durchgeschleust worden sind. Die AIDS-Opfer, die Obdachlosen mit Wundbrand. Vergewaltigte, erwürgte und erstochene Frauen und Kinder. Spinner, die von Dächern gesprungen sind oder sich vor einen Zug geworfen haben. Es gibt keine Todesart, die dieses Gebäude nicht gesehen hat. Ganz zu schweigen von all den rosafarbenen Gummileichen in den Bodenwannen der Anatomie. Die fand ich immer am schlimmsten. Weißt du noch, wie man sie an Ketten und Haken in den Ohren aus den Wannen gehoben hat? Alle nackt und rosa wie die drei kleinen Schweinchen und mit angewinkelten Beinen.« Als er die Beine hebt, um es vorzumachen, recken sich seine Knie in der schwarzen Cargohose in Richtung Sonnenblende.
»Vor nicht allzu langer Zeit hättest du deine Beine niemals so weit hochgekriegt«, stellt sie fest. »Noch vor drei Monaten konntest du kaum die Knie beugen.«
»Hmm.«
»Das meine ich ernst. Ich wollte dir schon lange sagen, wie gut du inzwischen in Form bist.«
»Das Bein heben schafft sogar ein Hund, Doc«, witzelt er, und dank des Kompliments bessert sich seine Laune sichtlich. Sie hat ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn nicht schon früher gelobt hat. »Vorausgesetzt, der fragliche Hund ist ein Männchen.«
»Mal ganz ehrlich, ich bin beeindruckt.« Seit Jahren macht sie sich schon Sorgen, dass Marino wegen seiner schauerlich ungesunden Lebensweise irgendwann einmal tot umfallen könnte – und trotzdem hat sie Monate gebraucht, um ihn zu loben, obwohl er sich solche Mühe gibt. Offenbar musste erst ihr alter Arbeitsplatz abgerissen werden, damit sie etwas Nettes zu ihm sagen kann. »Tut mir Leid, dass ich es bis jetzt nicht erwähnt habe«, fügt sie hinzu. »Aber ich hoffe auch, dass du dich nicht mehr nur von Eiweiß und Fett ernährst.«
»Ich bin jetzt ein Florida-Boy«, erwidert er vergnügt. »Und auf South-Beach-Diät. Allerdings werd ich den Teufel tun und in South Beach rumhängen. Da wimmelt es nur von Schwuchteln.«
»Nimm nicht solche Wörter in den Mund«, gibt sie zurück, denn sie kann es nicht leiden, wenn er so redet, was natürlich genau der Grund ist, warum er es tut.
»Erinnerst du dich an den Ofen da unten?«, schwelgt Marino weiter in seinen Erinnerungen. »Man wusste immer, wenn Leichen verbrannt wurden, weil dann Rauch durch den Schornstein aufstieg.« Er zeigt auf den schwarzen Kamin des Krematoriums oben auf dem halb zerstörten alten Gebäude. »Wenn ich die Qualmwolke sah, ist mir die Lust vergangen, hier rumzufahren und die Luft einzuatmen.«
Scarpetta fährt am hinteren Teil des Gebäudes vorbei, der noch intakt ist und so aussieht wie früher. Der Parkplatz ist leer bis auf einen großen gelben Traktor, der fast genau an der Stelle steht, wo sie immer geparkt hat, als sie noch Chefpathologin war, gleich rechts neben dem riesigen geschlossenen Rolltor. Für einen Moment hört sie das Kreischen und Ächzen des Tors, das sich ratternd aufwärts oder abwärts bewegte, wenn jemand drinnen auf den großen grünen oder den roten Knopf drückte. Sie hört Stimmen, das Rumpeln von Leichen- und Krankenwagen, das Aufgehen und Zuknallen von Türen und das Klappern und Scheppern der Bahren, wenn verhüllte Leichen die Rampe hinauf- und hinuntergeschoben wurden, rein und raus, Tag und Nacht, ein ständiges Kommen und Gehen.
»Schau es dir gut an«, sagt sie zu Marino.
»Das habe ich schon getan, als du das erste Mal um den Block gefahren bist«, erwidert er. »Hast du vor, den ganzen Tag hier im Kreis rumzukurven?«
Sie biegt an der Main Street links ab, umfährt, diesmal ein wenig schneller, die Abrissstelle und denkt, dass das Gebäude bald aussehen wird wie der wunde Stumpf eines Amputierten. Als wieder der Parkplatz in Sicht kommt, bemerkt sie einen Mann in olivgrüner Hose und schwarzer Jacke, der neben dem großen gelben Traktor steht und sich am Motor zu schaffen macht. Er hat wohl Probleme mit dem Traktor, aber sie fände es besser, wenn er nicht vor dem riesigen schwarzen Hinterreifen stehen würde, während er am Motor herumfummelt.
»Ich glaube, du solltest die Kappe im Auto lassen«, sagt sie zu Marino.
»Hä?«, fragt er und wendet ihr das flächige, wettergegerbte Gesicht zu.
»Du hast mich sehr wohl verstanden. Nur ein Tipp in aller Freundschaft und zu deinem eigenen Besten«, erwidert sie, während der Traktor und der Mann hinter ihr immer kleiner werden und irgendwann nicht mehr zu sehen sind.
»Du behauptest immer, dass es in aller Freundschaft und nur zu meinem eigenen Besten ist«, gibt er zurück. »Aber es stimmt nie.« Er nimmt die LAPD-Kappe ab und betrachtet sie nachdenklich. Schweißperlen glänzen auf seinem kahlen Schädel. Er hat die schütteren grauen Haarsträhnen, die ihm die Natur freundlicherweise noch lässt, selbst entfernt.
»Ich wusste gar nicht, dass du dir jetzt den Kopf rasierst«, meint sie.
»Man muss halt mit der Zeit gehen«, antwortet er. »Wenn man kaum noch Haare hat, ist es das Beste, sie loszuwerden.«
»Das klingt logisch«, erwidert sie. »In etwa so logisch wie alles andere auch.«
2
Edgar Allan Pogue räkelt sich im Liegestuhl und starrt auf seine nackten Zehen. Schmunzelnd überlegt er, wie die Leute wohl reagieren werden, falls sie herausfinden, dass er nun in Hollywood wohnt. Er, Edgar Allan Pogue, hat hier einen Zweitwohnsitz, wo er die Sonne genießen, sich amüsieren und ungestört bleiben kann.
Niemand wird ihn fragen, welches Hollywood er meint. Bei diesem Wort denken alle nur an den großen weißen Schriftzug »Hollywood« in den Hügeln, von Mauern geschützte Villen, offene Sportwagen und die Schönen und Reichen, die Götter. Kein Mensch würde jemals vermuten, dass Edgar Allan Pogues Hollywood in Broward County, etwa eine Autostunde nördlich von Miami, liegt und kein Tummelplatz der Reichen und Berühmten ist. Er wird es seinem Arzt erzählen, denkt er und spürt leichte Schmerzen. Ja, sein Arzt wird der Erste sein, der es erfährt, und dann wird ihm beim nächsten Mal nicht der Grippe-Impfstoff ausgehen, denkt Pogue, diesmal mit einem Anflug von Furcht. Kein Arzt der Welt würde einem Patienten mit Wohnsitz in Hollywood die Grippe-Schutzimpfung verweigern, ganz gleich, wie knapp der Impfstoff auch sein mag, sagt sich Pogue, nun ein wenig erbost.
»Siehst du, liebe Mutter, wir sind hier. Wir haben es tatsächlich geschafft. Es ist kein Traum«, sagt Pogue in der verwaschenen Sprechweise eines Menschen, der einen Gegenstand im Mund hat, welcher die Bewegungen seiner Lippen und der Zunge hemmt.
Seine ebenmäßigen gebleichten Zähne schließen sich fester um den hölzernen Bleistift.
»Und du hast gedacht, dieser Tag würde niemals kommen«, fährt er trotz Bleistift fort, sodass ein Speicheltropfen über seine Unterlippe tritt und das Kinn hinabrinnt.
Aus dir wird nie etwas werden, Edgar Allan, Versager, Versager, Versager. Er spricht mit dem Bleistift im Mund und ahmt den tückischen Tonfall und das betrunkene Lallen seiner Mutter nach. Du bist eine Flasche, Edgar Allan, genau das bist du. Verlierer, Verlierer, Verlierer.
Sein Liegestuhl steht mitten in dem stickigen, übel riechenden Wohnzimmer seiner Zwei-Zimmer-Wohnung im ersten Stockwerk des Häuserblocks, der an der Garfield Street liegt. Die Straße ist nach einem amerikanischen Präsidenten benannt und verläuft in ostwestlicher Richtung parallel zum Hollywood Boulevard und zur Sheridan Avenue. Der blassgelb verputzte einstöckige Komplex trägt aus unbekannten Gründen den Namen Garfield Court. Es gibt hier keinen Garten, nicht einmal einen einzigen Grashalm, nur einen Parkplatz und drei schwindsüchtige Palmen mit zotteligen Wedeln, die Pogue an die rissigen Flügel der Schmetterlinge erinnern, die er als Kind auf Pappe gespießt hat.