Nicht genug Saft im Stamm. Das ist dein Problem.
»Hör auf, Mutter. Hör sofort auf. Du sollst so was nicht sagen.«
Als Pogue vor zwei Wochen seinen Zweitwohnsitz mietete, hat er nicht um den Preis verhandelt, obwohl neunhundertfünfzig Dollar im Vergleich dazu, was er in Richmond für dieses Geld kriegen würde, der reinste Wucher ist. Allerdings zahlt er in Richmond keine Miete. Doch es ist nicht einfach, hier in dieser Gegend eine passende Wohnung zu finden, und als er nach einer sechzehnstündigen Fahrt endlich in Broward County ankam, wusste er nicht, wo er zu suchen anfangen sollte. Erschöpft, aber aufgedreht, war er herumgefahren, um sich zu orientieren und nach einer Unterkunft Ausschau zu halten. Er hatte keine Lust, sich mit einem Motelzimmer zu begnügen, nicht einmal für eine Nacht. Sein alter weißer Buick war mit seinen Habseligkeiten voll gepackt, und er wollte nicht das Risiko eingehen, dass irgendein jugendlicher Rotzlöffel die Wagenfenster einschlug, um seinen Videorecorder und den Fernseher zu stehlen – ganz zu schweigen von seinen Klamotten, seinen Kosmetiksachen, dem Laptop, der Perücke, dem Liegestuhl, der Lampe, der Bettwäsche, den Büchern, dem Papier, den Stiften, den Flaschen roten, weißen und blauen Lacks zum Nachlackieren seines heiß geliebten Kinder-Baseballschlägers und einiger anderer lebenswichtiger Dinge, einschließlich der alten Freunde.
»Es war schrecklich, Mutter«, erzählt er die Geschichte noch einmal, um sie von ihrem betrunkenen Genörgel abzuhalten. »Bestimmte Umstände erforderten, dass ich unser reizendes kleines Südstaatenstädtchen sofort verließ, wenn auch nicht für immer, ganz gewiss nicht. Nun habe ich einen Zweitwohnsitz und werde natürlich zwischen Hollywood und Richmond hin- und herpendeln. Wir beide haben doch schon immer von Hollywood geträumt, wohin wir uns wie Siedler im Planwagentreck auf den Weg machen wollten, um unser Glück zu finden.«
Sein Trick funktioniert. Er hat es geschafft, ihre Aufmerksamkeit auf die Reise durch eine malerische Landschaft zu schicken, sodass ihm eine erneute Tirade über sein Versagen erspart bleibt.
»Allerdings fühlte ich mich nicht sehr wohl, als ich an der North Twenty-Fourth Street abfuhr und in einem gottverlassenen Slum namens Liberia landete, wo es einen Eiswagen gab.«
Er spricht mit dem Bleistift im Mund, als wäre es eine Trense. Der Stift ist sein Tabakersatz, weil das Rauchen nicht nur ungesund und eine schlechte Angewohnheit, sondern außerdem auch ziemlich teuer ist. Pogue hat eine Schwäche für Zigarren. Obwohl er sich sonst nur wenig gönnt, muss er seine Indios und Cubitas und A Fuentes und vor allem die Cohibas, die sagenumwobene Schmuggelware aus Kuba, haben. Er ist fasziniert von Cohibas und weiß, wo man sie bekommen kann. Es ist ein Riesenunterschied, wenn kubanischer Rauch seine gequälte Lunge liebkost. Mit unreinem Kraut ruiniert man sich die Lunge, doch der reine Tabak aus Kuba hat eine heilende Wirkung.
»Ist das zu fassen? Ein Eiswagen, der seine süße, unschuldige Melodie dudelte, und viele Negerkinder, die mit Kleingeld angelaufen kamen, um sich etwas Süßes zu kaufen. Und dabei waren wir mitten im einem Ghetto, einem Kriegsgebiet, und die Sonne war bereits untergegangen. Ich wette, dass in Liberia nachts viel geschossen wird. Natürlich habe ich mich sofort aus dem Staub gemacht und bin schließlich in einem besseren Viertel gelandet. Ich habe dich sicher und wohlbehalten nach Hollywood gebracht, richtig, Mutter?«
Zufällig befand er sich auf der Garfield Street und fuhr langsam an den winzigen eingeschossigen, verputzten Häuschen mit ihren schmiedeeisernen Geländern, den Jalousien vor den Fenstern, den Autostellplätzen und den Miniaturrasenflächen vorbei, die beim besten Willen keinen Platz für einen Swimming-Pool boten. Es waren reizende kleine Behausungen, vermutlich in den Fünfzigern und Sechzigern erbaut. Sie sprachen ihn an, weil sie Jahrzehnte voller zerstörerischer Hurrikans und umwälzender demographischer Veränderungen überstanden hatten, ebenso wie gnadenlose Erhöhungen der Grundsteuer, die die alten Besitzer vertrieben hatten. Diese waren von Neuankömmlingen ersetzt worden, die vermutlich kein Englisch sprachen und sich auch keine Mühe gaben, es zu lernen. Und dennoch hatte das Viertel überlebt. Und während ihm all diese Gedanken im Kopf herumgingen, erschien plötzlich der Wohnblock vor seiner Windschutzscheibe wie eine Vision.
Vor dem Haus steht ein Schild mit der Aufschrift GAR-FIELD COURT und einer Telefonnummer. Pogues Reaktion auf die Vision bestand darin, dass er auf den Parkplatz einbog, sich die Nummer notierte, anschließend zur nächsten Tankstelle fuhr und dort den Münzfernsprecher benutzte. Ja, es sei eine Wohnung frei. Und keine Stunde später hatte er seine erste und hoffentlich letzte Begegnung mit Benjamin P. Shupe, dem Vermieter.
Das geht nicht, das geht nicht, lautete Shupes ständige Litanei, als er Pogue in seinem Erdgeschossbüro am Schreibtisch gegenübersaß. Das Büro war heiß und stickig und außerdem von dem übermächtigen Geruch von Shupes schauderhaftem Herrenparfüm verpestet. Wenn Sie eine Klimaanlage wollen, müssen Sie sich selbst ein Gerät fürs Fenster kaufen. Das ist Ihre Sache. Doch wir haben jetzt die schönste Zeit im Jahr, Touristensaison. Wer braucht denn da eine Klimaanlage?
Benjamin P. Shupe bleckte sein weißes Gebiss, das Pogue an Badezimmerkacheln erinnerte. Der mit Gold behängte Miethai klopfte mit einem pummeligen Zeigefinger auf die Tischplatte und ließ einen dicken Diamantring aufblitzen. Sie haben Glück. Die ganze Welt will um diese Jahreszeit hier wohnen. Ich habe eine Warteliste von zehn Interessenten allein für diese Wohnung. Shupe, der Slumkönig, machte eine Geste, die den Zweck hatte, seine goldene Rolex so gut wie möglich zur Geltung zu bringen. Er ahnte nicht, dass Pogues dunkel getönte Brille nur aus Fensterglas besteht und dass es sich bei seiner langen schwarzen Lockenmähne um eine Perücke handelt. In zwei Tagen werden es zwanzig Interessenten sein. Eigentlich sollte ich Ihnen die Wohnung zu diesem Preis gar nicht überlassen.
Pogue bezahlte bar. Keine Kaution oder andere Sicherheiten wurden verlangt, keine Fragen gestellt, und kein Nachweis seiner Identität war erforderlich, ja, nicht einmal erwünscht. In drei Wochen wird er wieder in bar für den Monat Januar bezahlen müssen, falls er die Absicht haben sollte, seinen Zweitwohnsitz während der Hochsaison in Hollywood zu behalten. Allerdings ist es noch ein bisschen früh für ihn, um zu wissen, was er nach Neujahr vorhat.
»Es gibt Arbeit, viel Arbeit«, murmelt er, während er die Fachzeitschrift für Bestattungsunternehmer durchblättert und eine Seite aufschlägt, auf der Urnen und Erinnerungsstücke abgebildet sind. Er studiert die bunten Bilder, die er schon in- und auswendig kennt. Seine Lieblingsurne ist und bleibt die Zinnschatulle, die wie ein Stapel schöner Bücher geformt ist. Obenauf liegt ein Federkiel, und er malt sich aus, dass es sich bei den Büchern um alte Bände von Edgar Allan Poe handelt. Er fragt sich, wie viel Hunderte von Dollar diese elegante Zinnschatulle wohl kosten würde, wenn er die gebührenfreie Nummer anruft.
»Ich sollte einfach anrufen und bestellen«, meint er vergnügt. »Ich sollte es einfach tun, oder, Mutter?« Er neckt sie, als hätte er ein Telefon, sodass er sein Vorhaben gleich in die Tat umsetzen könnte. »Oh, die würde dir gefallen, stimmt’s?« Er berührt die Abbildung der Urne. »Edgar Allans Urne wäre doch was für dich, nicht wahr? Aber erst wenn es was zu feiern gibt, und im Moment läuft es mit der Arbeit nicht so wie geplant, Mutter. O ja, du hast mich sehr wohl verstanden. Ein kleiner Rückschlag, wie ich fürchte.«
Ein Versager, das bist du.
»Nein, Mutter, damit hat es überhaupt nichts zu tun.« Kopfschüttelnd blättert er weiter die Zeitschrift durch. »Jetzt fangen wir nicht wieder damit an. Wir sind in Hollywood. Ist es nicht hübsch hier?«
Er denkt an die lachsfarbene Villa am Wasser, nicht sehr weit nördlich von hier, und wird von verwirrenden Gefühlen ergriffen. Wie geplant hat er die Villa gefunden. Wie geplant ist er dort eingedrungen. Aber dann lief alles schief, und jetzt gibt es nichts zu feiern.