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»Falsch gedacht, falsch gedacht.« Er schnippt sich mit zwei Fingern gegen die Stirn, wie seine Mutter es früher getan hat. »So hätte es nicht laufen dürfen. Was soll ich tun, was soll ich tun? Der kleine Fisch ist entkommen.« Er vollführt Schwimmbewegungen mit den Fingern. »Und hat den großen Fisch zurückgelassen.« Er schwimmt mit beiden Armen durch die Luft. »Der kleine Fisch ist weggefahren, und ich weiß nicht, wohin. Aber das ist mir egal, absolut egal. Denn der große Fisch ist noch da, und ich habe den kleinen Fisch vertrieben. Ganz bestimmt ist der große Fisch nicht glücklich darüber. Ganz bestimmt nicht. Bald wird es was zu feiern geben.«

Entkommen? Wie doof kann ein Mensch denn sein? Du hast den kleinen Fisch nicht gefangen und glaubst, du könntest den großen kriegen? Was bist du nur für ein Versager! Und so was ist mein Sohn!

»Red nicht so daher, Mutter. Das ist unhöflich«, sagt er, den Kopf über die Fachzeitschrift für Bestattungsunternehmer gebeugt.

Sie fixiert ihn mit einem Blick, mit dem man ein Schild an einen Baum nageln könnte. Sein Vater kannte ihren berüchtigten Blick immer: Haare auf den Augäpfeln. Aber Augäpfel haben keine Haare. Nicht soweit er im Bilde ist, und er müsste es eigentlich wissen. Es gibt nicht viel, was er nicht weiß. Er lässt die Zeitschrift zu Boden fallen, erhebt sich aus dem gelbweißen Liegestuhl und holt seinen Kinder-Baseballschläger aus der Ecke, wo er ihn hingestellt hat. Die geschlossene Jalousie vor dem einzigen Fenster sperrt das Sonnenlicht aus dem Wohnzimmer aus und taucht den Raum in einen angenehmen Dämmerschein, kaum erhellt durch die einsame Lampe auf dem Boden.

»Sehen wir mal. Was machen wir heute?«, fährt er, immer noch den Bleistift im Mund, fort. Er spricht mit einer Keksdose, die unter dem Liegestuhl steht. Dann überprüft er am Baseballschläger die roten, weißen und blauen Sterne und Streifen, die er nachgemalt hat, und zwar, wenn er nachzählt, genau einhundertelfmal. Liebevoll poliert er den Baseballschläger mit einem weißen Taschentuch. Dann reibt er sich die Hände mit dem Taschentuch ab. Wieder und wieder. »Heute sollten wir etwas ganz Besonderes unternehmen. Ich glaube, ein Ausflug ist angesagt.«

Er schlendert zur Wand, nimmt den Bleistift aus dem Mund und hält ihn in einer Hand. Den Baseballschläger hat er in der anderen, als er mit zur Seite geneigtem Kopf die ersten Striche einer Skizze auf dem schmuddeligen, beige gestrichenen Rigips betrachtet. Sanft berührt er mit der stumpfen Bleistiftspitze ein starrendes Auge und strichelt die Wimpern dicker. Der Stift ist feucht und steckt zwischen den Spitzen von Zeigefinger und Daumen, während er zeichnet.

»So.« Er tritt zurück, neigt wieder den Kopf und bewundert das große starrende Auge und den Schwung einer Wange. Der Baseballschläger zuckt in seiner anderen Hand.

»Habe ich dir schon gesagt, wie hübsch du heute aussiehst? So eine schöne Farbe wirst du bald an den Wangen haben, ganz erhitzt und rosig, als wärst du draußen in der Sonne gewesen.«

Er steckt sich den Bleistift hinters Ohr, hält sich die Hand nah vors Gesicht und dreht sie mit gespreizten Fingern hin und her, um jedes Gelenk, jede Falte, jede Narbe und Linie und die zarten Rillen in seinen kleinen, abgerundeten Nägeln zu mustern. Er massiert die Luft und sieht dem Spiel der feinen Muskeln zu, während er sich vorstellt, wie er kalte Haut reibt, kaltes, träges Blut aus dem Unterhautgewebe herausknetet und das Fleisch bearbeitet, bis er den Tod vertrieben hat und ein hübscher rosiger Schimmer entsteht. Der Baseballschläger zuckt in seiner anderen Hand, und er malt sich aus, wie er ihn schwingt. Er vermisst es, kalkigen Staub zwischen den Handflächen zu reiben und mit dem Baseballschläger auszuholen, und er bebt vor Begierde, ihn in das Auge an der Wand zu rammen. Aber er tut es nicht. Er kann nicht und er darf nicht, und als er hin und her geht, rast das Herz in seiner Brust. Das Durcheinander erfüllt ihn mit ohnmächtiger Wut.

Das Durcheinander existiert, obwohl die Wohnung leer ist. Die Arbeitsfläche in der Küche ist mit Papierservietten, Plastiktellern, Konservendosen und Tüten mit Makkaroni und Spaghetti bedeckt, weil Pogue sich noch nicht die Mühe gemacht hat, die Sachen in dem einzigen Küchenschrank zu verstauen. Ein Topf und eine Bratpfanne sind in einem mit kaltem, fettigem Wasser gefüllten Spülbecken eingeweicht. Auf dem fleckigen blauen Teppich liegen Reisetaschen, Kleidungsstücke, Bücher, Bleistifte und Papier herum. In Pogues Zweitwohnsitz macht sich allmählich der abgestandene Geruch nach seinen Kochkünsten, den Zigarren und seinem muffigen Schweiß breit. Es ist sehr warm hier drin, und er ist nackt.

»Ich glaube, wir sollten nach Mrs. Arnette sehen. Schließlich geht es ihr nicht gut«, sagt er zu seiner Mutter, ohne sie anzuschauen. »Hättest du heute gern Besuch? Ich frage dich lieber vorher. Doch es würde uns beide sicher aufheitern. Ich bin ein bisschen niedergeschlagen, wie ich zugeben muss.« Er denkt an den kleinen Fisch, der entkommen ist, und betrachtet das Durcheinander ringsum. »Besuch wäre da doch genau das Richtige, was meinst du?«

Das wäre schön.

»Ach, wäre es das?« Seine Baritonstimme hebt und senkt sich, als spräche er mit einem Kind oder einem Haustier. »Hättest du gern Besuch? Also gut! Das ist ja fabelhaft!«

Seine nackten Füße tappen über den Teppich. Dann geht er vor einem Pappkarton voller Videobänder, Zigarrenkisten und Umschlägen mit Fotos in die Hocke, die alle seine kleine ordentliche Handschrift tragen. Fast ganz unten im Karton findet er Mrs. Arnettes Zigarrenkiste und den Umschlag mit den Polaroid-Fotos.

»Mutter, Mrs. Arnette ist da, um dich zu besuchen«, sagt er mit einem zufriedenen Seufzer, während er die Zigarrenkiste öffnet und sie auf den Liegestuhl stellt. Er schaut die Fotos durch und greift nach dem, das ihm am besten gefällt. »Du erinnerst dich doch noch an sie, oder? Ihr seid euch schon einmal begegnet. Eine alte Dame, wie sie im Buche steht. Schau, sie hat sogar bläulich getönte Haare.«

Ja, das hat sie wirklich.

»Jadashassiewillich«, ahmt er die schleppende Sprache und das schwerzüngige Lallen nach, mit dem sie sich durch die Wörter kämpft, wenn sie wieder einmal viel zu tief in die Wodkaflasche geschaut hat.

»Gefällt dir ihre neue Schachtel?«, fragt er, während er den Finger in die Zigarrenkiste steckt und ein Wölkchen Staub in die Luft pustet. »Jetzt sei nicht neidisch, aber sie hat abgenommen, seit du sie zuletzt gesehen hast. Ich frage mich, wie sie das bloß anstellt«, neckt er, steckt wieder den Finger hinein und pustet noch mehr Staub in die Luft, damit seine abstoßend fette Mutter es auch sehen kann und neidisch wird. Dann wischt er sich die Finger mit dem weißen Taschentuch ab. »Ich glaube, unsere liebe Freundin Mrs. Arnette sieht wirklich absolut hinreißend aus.«

Er mustert das Foto von Mrs. Arnette, deren Haar das rosige tote Gesicht umgibt wie eine bläuliche Aura. Dass ihr Mund zugenäht ist, weiß er nur deshalb, weil er sich daran erinnert, es selbst getan zu haben. Ansonsten ist sein fachkundiger chirurgischer Eingriff kaum zu erkennen. Ein Außenstehender würde nie vermuten, dass die runde Form ihrer Augen durch die Kappen unter ihren Lidern zustande kommt. Er weiß noch, wie er die Kappen sanft auf die eingesunkenen Augäpfel gelegt und sie mit Vaselineklecksen befestigt hat.

»Und jetzt sei nett und frag Mrs. Arnette, wie sie sich fühlt«, sagt er zu der Keksdose unter dem Liegestuhl. »Sie hatte Krebs. Das hatten so viele von ihnen.«

3

Dr. Joel Marcus begrüßt Scarpetta mit einem steifen Lächeln, und sie schüttelt seine trockene, feingliedrige Hand. Sie schätzt ihn als einen Menschen ein, der ihr Gelegenheit geben könnte, ihn zu verachten. Aber bis auf diese düstere Vorahnung, die sie sofort tief in einem dunklen Winkel ihres Herzens ablegt, fühlt sie nichts.

Vor vier Monaten hat sie von seiner Existenz gehört, und zwar auf dieselbe Weise, wie sie das meiste erfährt, was mit ihrem früheren Leben in Virginia zu tun hat: durch puren Zufall. Sie saß gerade im Flugzeug und las USA Today, als ihr eine Meldung auffiel, in der es um Virginia ging. »Gouverneurin ernennt nach langer Suche neuen Chefpathologen …«, stand da. Endlich, nach vielen Jahren ohne einen oder nur mit einem kommissarischen Chefpathologen, hatte Virginia jetzt endlich einen gefunden. Scarpetta war während dieser endlosen, quälenden Suche nicht nach ihrer Meinung gefragt oder um Rat gebeten worden.