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Hätte man sie gefragt, dann hätte sie zugegeben, dass sie den Mann nicht kannte. Darauf wäre die diplomatische Andeutung gefolgt, sie sei ihm sicher schon bei einem bundesweiten Kongress begegnet, könne sich aber an den Namen nicht erinnern. Gewiss sei er ein anerkannter forensischer Pathologe, hätte sie weiter erklärt, sonst würde man ihn auch wohl kaum zum Leiter der einflussreichsten gerichtsmedizinischen Behörde in den gesamten Vereinigten Staaten machen.

Doch als sie Dr. Marcus jetzt die Hand schüttelt und ihm in die kleinen kalten Augen blickt, stellt sie fest, dass er ihr absolut fremd ist. Er ist eindeutig weder jemals Mitglied eines bedeutenden Gremiums gewesen, noch hat er bei einem pathologischen, gerichtsmedizinischen oder forensischen Kongress referiert, bei dem sie anwesend war. Ansonsten würde sie sich an ihn erinnern. Namen vergisst sie hin und wieder, aber niemals ein Gesicht.

»Kay, endlich lernen wir uns kennen«, sagt er und beleidigt sie damit wieder, nur dass es diesmal schlimmer ist, weil sie sich persönlich gegenüberstehen.

Was sie am Telefon nur widerstrebend so gedeutet hat, lässt sich nun, als sie ihm in der Vorhalle des Gebäudes namens Biotech II begegnet, wo sie zuletzt als Chefpathologin tätig war, nicht mehr von der Hand weisen. Dr. Marcus ist ein kleiner, magerer Mann mit einem kleinen, mageren Gesicht und einem kleinen, mageren Kranz schmutzig grauer Haare hinten an seinem kleinen Kopf und sieht somit so aus, als hätte die Natur bei ihm am Material gespart. Er trägt eine altmodische schmale Krawatte, eine formlose graue Hose und Mokassins. Unter dem billigen weißen, durchgeknöpften Hemd, das ihm um den dünnen Hals schlottert, ist ein ärmelloses Unterhemd zu sehen. Der Hemdkragen ist schmuddelig und voller aufgerauter Knötchen.

»Gehen wir rein«, sagt er. »Ich fürchte, heute ist hier ziemlich viel los.«

Sie will ihm gerade erklären, dass sie nicht allein ist, als Marino aus der Herrentoilette kommt. Er zieht sich die schwarze Cargohose hoch und hat die LAPD-Kappe tief in die Stirn geschoben. Scarpetta stellt ihn vor und beschränkt sich dabei auf das Nötigste.

»Mr. Marino war früher bei der Polizei von Richmond und ist ein sehr erfahrener Ermittler«, sagt sie, während Dr. Marcus’ Miene sich verfinstert.

»Sie haben nicht erwähnt, dass Sie jemanden mitbringen wollten«, erwidert er barsch. Sie befinden sich in Scarpettas ehemaliger geräumiger Vorhalle aus Granit und Glasbausteinen, wo sie sich gerade angemeldet und dann zwanzig Minuten wie bestellt und nicht abgeholt herumgestanden und darauf gewartet hat, dass Dr. Marcus oder irgendjemand sonst sie zur Kenntnis nimmt. »Ich dachte, ich hätte klargestellt, dass es sich um eine äußerst sensible Situation handelt.«

»Hey, machen Sie sich keinen Kopf drüber. Ich bin sehr sensibel«, erwidert Marino laut.

Dr. Marcus tut so, als hätte er ihn nicht gehört, doch innerlich kocht er offenbar. Scarpetta kann förmlich spüren, wie seine Wut die Luft im Raum verdrängt.

»Im Jahrbuch meiner Abschlussklasse hieß es über mich: ›Wird aller Wahrscheinlichkeit nach sehr sensibel werden‹«, fügt Marino nicht weniger laut hinzu. »Hey, Bruce!«, ruft er dann einem uniformierten Wachmann zu, der gerade aus der Asservatenkammer in die Vorhalle tritt. »Wie geht’s, wie steht’s, Mann? Spielst du immer noch Bowling bei den Pin Heads, diesen Versagern?«

»Habe ich es nicht erwähnt?«, meint Scarpetta. »Das tut mir aber Leid.« Sie hat es wirklich nicht erwähnt, bedauert das allerdings nicht im Geringsten. Wenn sie zu einem Fall hinzugezogen wird, kann sie mitbringen, wen und was sie will.

Bruce, der Wachmann, wirkt überrascht. »Marino! Heiliger Strohsack, bist du es wirklich? Oder ein Geist aus der Vergangenheit?«

»Nein, haben Sie nicht«, antwortet Dr. Marcus Scarpetta. Kurz scheint er aus dem Konzept gebracht, und seine Verunsicherung ist so deutlich wahrnehmbar wie das Flügelschlagen eines aufgeschreckten Vogelschwarms. »Ich weiß nicht, ob ich das gestatten kann. Es liegt keine Genehmigung vor.«

»Mann, na klar bin ich’s und kein Geist«, ruft Marino so laut wie möglich.

»Wie lange bleibst du in der Stadt?«

»So lange wie nötig, Mann.«

Es war ein Fehler, und zwar ein schwer wiegender, denkt Scarpetta. Ich hätte doch nach Aspen fahren sollen.

»Komm vorbei, wenn du mal Zeit hast.«

»Klar, Kumpel.«

»Jetzt reicht es«, zischt Dr. Marcus. »Wir sind hier nicht in einer Bar.«

Er trägt einen Generalschlüssel zu seinem Königreich an einer Kordel um den Hals und muss sich bücken, um die Magnetkarte an den Infrarotscanner neben einer Tür aus Milchglas zu halten. Dahinter befindet sich der Gebäudeflügel, in dem die Gerichtsmedizin untergebracht ist. Scarpettas Mund ist trocken. Sie schwitzt unter den Achseln und hat ein hohles Gefühl im Magen, als sie diese Abteilung des modernen Gebäudes betritt, an dessen Planung und Finanzierung sie selbst beteiligt und in das sie kurz vor ihrer Kündigung eingezogen war. Das elegante dunkelblaue Sofa mit passendem Sessel, der Couchtisch aus Holz und das Gemälde an der Wand, das eine ländliche Szene darstellt, sind noch dieselben. Im Empfangsbereich hat sich nichts geändert, nur dass die beiden Maispflanzen und die vielen Malven verschwunden sind. Sie hat sich hingebungsvoll um ihre Pflanzen gekümmert, sie gegossen, die abgestorbenen Blätter entfernt und sie umgestellt, wenn sich die Lichtverhältnisse mit den Jahreszeiten änderten.

»Ich fürchte, Sie können keinen Gast mitbringen«, entscheidet Dr. Marcus, als sie vor einer weiteren verschlossenen Tür stehen. Diese führt in die Verwaltungsbüros und ins Leichenschauhaus, ins Allerheiligste also.

Wieder wirkt seine Magnetkarte als Sesam-öffne-dich, und die Tür springt mit einem Klicken auf. Er tritt zuerst ein und geht schnell weiter. Das Neonlicht spiegelt sich in den Gläsern seiner kleinen Metallbrille. »Ich bin im Stau stecken geblieben und jetzt spät dran. Wir haben ein volles Haus. Acht Fälle«, fährt er fort, wobei er sich nur an Scarpetta wendet, als wäre Marino nicht vorhanden. »Ich muss sofort in eine Mitarbeiterbesprechung. Wahrscheinlich ist es das Beste, Kay, wenn Sie währenddessen einen Kaffee trinken. Es könnte eine Weile dauern. Julie?«, ruft er einer Sekretärin zu, die unsichtbar hinter einer Trennwand sitzt und die Tastatur ihres Computers unter den Fingern klappern lässt wie Kastagnetten. »Wären Sie so nett, unseren Gästen zu zeigen, wo sie einen Kaffee bekommen?« Dann wendet er sich wieder an Scarpetta: »Machen Sie es sich einfach in der Bibliothek gemütlich. Ich kümmere mich um Sie, sobald ich kann.«

Die Höflichkeit unter Kollegen würde zumindest gebieten, eine forensische Pathologin, die auf Besuch ist, bei der Mitarbeitersitzung und im Leichenschauhaus willkommen zu heißen, insbesondere dann, wenn sie dem gerichtsmedizinischen Institut, dem sie einst vorgestanden hat, kostenlos ihre Beraterdienste zur Verfügung stellt. Dr. Marcus’ Verhalten ist ein Schlag ins Gesicht. Er könnte Scarpetta genauso gut gebeten haben, seine Wäsche in die Reinigung zu bringen oder auf dem Parkplatz auf ihn zu warten.

»Ich fürchte, Ihr Gast darf sich nicht hier aufhalten«, stellt er noch einmal klar und blickt sich dabei ungeduldig um. »Julie, und könnten Sie diesen Herrn davor noch zurück in die Vorhalle begleiten?«

»Er ist nicht mein Gast, und er wartet auch nicht in der Vorhalle«, sagt Scarpetta mit ruhiger Stimme.

»Pardon?« Dr. Marcus dreht ihr sein kleines, mageres Gesicht zu.