»Nicht so senkrecht«, hört sie Bentons Stimme im Ohr. »Etwa zehn Grad nach unten.«
Unauffällig rückt sie den oberen Rand des Overalls zurecht, der um ihre Taille liegt.
»Den BH auch«, sagt Dr. Paulsson.
»Muss ich den wirklich ausziehen?«, fragt Lucy ängstlich und verschüchtert. »Das habe ich bis jetzt noch nie …«
»Miss Winston. Ich habe es wirklich eilig. Bitte.« Er steckt sich die Ohrstöpsel des Stethoskops in die Ohren und nähert sich mit strenger Miene, um ihr Herz und ihre Lungen abzuhören. Sie streift den Sport-BH über den Kopf und sitzt reglos und wie erstarrt auf dem Untersuchungstisch.
Er drückt ihr das Stethoskop erst unter die eine, dann unter die andere Brust und fasst sie dabei an. Lucy verharrt stocksteif. Sie atmet schnell, und ihr Herz klopft rasend vor Wut. Doch sie weiß, dass er es als Furcht deuten wird, und fragt sich, was für Bilder Benton wohl empfängt. Vorsichtig zupft sie den Overall um ihre Taille zurecht und positioniert die Kamera, während Dr. Paulsson sie berührt und so tut, als interessiere ihn das, was er sieht und betastet, nicht im Geringsten.
»Zehn Grad abwärts und dann nach rechts«, weist Benton sie an.
Unauffällig schiebt sie den Stift zurecht. Dr. Paulsson beugt sich vor und lässt das Stethoskop über ihren Rücken gleiten. »Tief einatmen.« Er ist sehr geschickt darin, seine Arbeit zu machen und sie gleichzeitig anzufassen. Es gelingt ihm sogar, die Hand um ihre Brust zu legen, während er sich gegen sie presst. »Haben Sie irgendwelche Narben oder Muttermale? Ich sehe nämlich keine.« Prüfend streicht er mit den Händen über ihren Körper.
»Nein, Sir«, erwidert sie.
»Eigentlich müssten Sie welche haben. Eine Blinddarmoperation vielleicht?«
»Nein.«
»Es reicht«, sagt Benton in Lucys Ohr, und sie kann aus seinem ruhigen Tonfall den Zorn heraushören.
Aber es reicht noch nicht.
»Ich möchte jetzt, dass Sie aufstehen und auf einem Bein balancieren«, meint Dr. Paulsson.
»Kann ich mich vorher anziehen?«
»Noch nicht.«
»Es reicht«, wiederholt Benton.
»Stehen Sie auf!«, befiehlt Dr. Paulsson.
Lucy bleibt auf dem Untersuchungstisch sitzen, zieht ihren Overall hoch, schlüpft in die Ärmel und schließt den Reißverschluss. Mit dem BH hält sie sich nicht auf, weil das zu lange dauern würde. Als sie ihn wieder ansieht, wirkt sie nicht mehr befangen und nervös. In seinen Augen ist zu erkennen, dass er diese Veränderung bemerkt hat. Lucy steht vom Tisch auf und geht auf ihn zu.
»Setzen Sie sich!«, weist sie ihn an.
»Was soll das?« Seine Augen weiten sich.
»Hinsetzen!«
Er rührt sich nicht von der Stelle und starrt sie an. Er hat Angst wie alle anderen Tyrannen, denen sie je begegnet ist. Sie tritt auf ihn zu, um ihn noch stärker einzuschüchtern, nimmt den Stift aus der Tasche und zeigt ihm den daran befestigten Draht. »Frequenztest«, sagt sie zu Benton, damit er die im Wartezimmer und in der Küche versteckten Wanzen überprüft.
»Die Luft ist rein«, erwidert er.
Sehr gut, denkt sie. Benton empfängt von unten keine Signale.
»Wenn Sie wüssten, was für einen Ärger Sie sich gerade eingehandelt haben«, sagt Lucy zu Dr. Paulsson. »Es wurde nämlich alles live mitgeschnitten. Also setzen Sie sich endlich!« Sie steckt den Stift wieder ein, sodass die verborgene Linse direkt auf ihn gerichtet ist.
Sein Schritt wird unsicher, als er sich einen Stuhl vom Schreibtisch heranzieht, Platz nimmt und sie mit bleichem Gesicht ansieht. »Wer sind Sie? Was soll das?«
»Ich bin Ihr Schicksal, Sie Scheißkerl«, erwidert Lucy und versucht, ihre Wut zu zügeln. Allerdings scheint es leichter zu sein, sich Angst einzureden, als den eigenen Zorn zu unterdrücken. »Haben Sie diesen Mist auch mit Ihrer Tochter gemacht? Mit Gilly? Haben Sie sie ebenfalls belästigt, Sie Schwein?«
Er blickt sie verwirrt an.
»Sie haben mich sehr wohl verstanden, Sie Arschloch. Und die Flugsicherungsbehörde wird auch bald von Ihnen erfahren.«
»Verlassen Sie sofort meine Praxis!« An seinen angespannten Muskeln und seinem Blick erkennt sie, dass er überlegt, ob er sie angreifen soll.
»Lassen Sie das lieber«, warnt sie ihn. »Sie rühren sich erst von diesem Stuhl, wenn ich es sage. Wann haben Sie Gilly zuletzt gesehen?«
»Was wollen Sie von mir?«
»Die Rose«, gibt Benton ihr das Stichwort.
»Ich stelle hier die Fragen«, entgegnet sie Dr. Paulsson, und am liebsten würde sie Benton dasselbe sagen. »Ihre Ex-Frau verbreitet Gerüchte. Wussten Sie das, Dr. Spitzel-für-den-Heimatschutz?«
Er fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Seine Augen sind weit aufgerissen, Angst spiegelt sich in ihnen.
»Mrs. Paulssons Behauptungen, Sie seien schuld an Gillys Tod, klingen recht überzeugend. Wussten Sie das?«
»Die Rose«, sagt Benton ihr ins Ohr.
»Sie erzählt überall herum, Sie hätten Gilly kurz vor ihrem plötzlichen Tod besucht und ihr eine Rose geschenkt. Ja, wir sind darüber im Bilde. Das Zimmer des armen Mädchens wurde nämlich auf den Kopf gestellt, darauf können Sie Gift nehmen.«
»In ihrem Zimmer war eine Rose?«
»Er soll sie beschreiben«, meint Benton.
»Die Antwort darauf will ich von Ihnen hören«, entgegnet Lucy. »Woher hatten Sie die Rose?«
»Sie war nicht von mir. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Sie verschwenden meine Zeit.«
»Sie werden nicht zur Flugsicherungsbehörde gehen …«
Lachend schüttelt Lucy den Kopf. »Ach, ihr kleinen Arschlöcher seid doch alle gleich. Offenbar glauben Sie allen Ernstes, dass Sie ungeschoren davonkommen werden. Erzählen Sie mir von Gilly. Dann können wir uns anschließend über die Flugsicherungsbehörde unterhalten.«
»Schalten Sie das Ding ab.« Er zeigt auf die Stiftkamera.
»Werden Sie mit mir über Gilly sprechen, wenn ich es tue?«
Er nickt.
Sie berührt den Stift und tut, als schalte sie ihn ab. Sein Blick bleibt ängstlich und argwöhnisch.
»Die Rose«, wiederholt sie.
»Ich schwöre bei Gott, dass ich nichts von einer Rose weiß«, antwortet er. »Ich hätte Gilly nie etwas angetan. Was hat diese Schlampe behauptet?«
»Ach, Suzanna.« Lucy blickt ihn an. »Die redet wie ein Wasserfall. Und wenn man ihr Glauben schenkt, sind Sie schuld an Gillys Tod. An ihrer Ermordung.«
»Nein! Gütiger Himmel, nein!«
»Haben Sie mit Gilly auch Soldat gespielt? Haben Sie sie in einen Tarnanzug und Stiefel gesteckt, Arschloch? Haben Sie andere Perverse zu Ihren kranken Spielchen zu sich nach Hause eingeladen?«
»O Gott«, stöhnt er auf und schließt die Augen. »Diese Schlampe. Das war etwas, das nur zwischen uns lief.«
»Uns?«
»Suz und mir. Paare tun manchmal solche Dinge.«
»War sonst noch jemand dabei? Haben auch andere Leute mitgespielt?«
»Alles fand in meinem Privathaus statt.«
»Was sind Sie bloß für ein Schwein!«, sagt Lucy bedrohlich. »So widerliches Zeug in Gegenwart eines kleinen Mädchens zu treiben.«
»Sind Sie vom FBI?« Als er die Augen öffnet, sind sie stumpf vor Hass und erinnern an die Augen eines Hais. »Ich liege doch richtig, oder? Ich hätte mir denken können, dass so etwas irgendwann passieren wird. Als ob mein Privatleben etwas mit dieser Sache zu tun hätte. Offenbar will mich jemand reinlegen.«
»Ich verstehe. Das FBI hat Sie also gezwungen, von mir zu verlangen, dass ich mich für eine ganz alltägliche flugärztliche Untersuchung ausziehe.«
»Das hat nichts damit zu tun. Es spielt keine Rolle.«
»Da bin ich aber anderer Ansicht«, höhnt sie. »Es spielt sehr wohl eine Rolle. Und zwar eine ziemlich große, wie Sie gleich herausfinden werden. Allerdings bin ich nicht vom FBI, Pech gehabt.«
»Geht es um Gilly?« Inzwischen ist seine Sitzhaltung etwas lockerer. Er bewegt sich kaum und scheint sich mit seinem Schicksal abgefunden zu haben. »Ich habe meine Tochter geliebt. Seit Thanksgiving habe ich sie nicht gesehen, und das ist, bei Gott, die Wahrheit.«
»Der Hund«, gibt Benton ihr ein neues Stichwort. Lucy überlegt ernsthaft, ob sie sich den Empfänger aus dem Ohr reißen soll.