»Glauben Sie, jemand hat Ihre Tochter umgebracht, weil Sie für den Heimatschutz spionieren?« Lucy weiß zwar, dass dem nicht so ist, aber irgendwie muss sie ihn ja kriegen. »Kommen Sie, Frank. Raus mit der Wahrheit! Machen Sie es nicht noch schlimmer für sich.«
»Jemand hat sie umgebracht?«, wiederholt er. »Das kann nicht sein.«
»Es ist aber so.«
»Unmöglich.«
»Wer war bei den Spielchen in Ihrem Haus sonst noch dabei?
Kennen Sie einen gewissen Edgar Allan Pogue? Das ist der Typ, der in Mrs. Arnettes früherem Haus wohnt.«
»Mrs. Arnette kannte ich«, erwidert er. »Sie war meine Patientin. Hypochondrisch veranlagt und eine ziemliche Nervensäge.«
»Das ist wichtig«, sagt Benton, als ob Lucy das nicht selbst wüsste. »Er vertraut sich dir an. Sei seine Freundin.«
»Ihre Patientin in Richmond?«, fragt Lucy ihn. Obwohl sie nicht die geringste Lust hat, seine Freundin zu mimen, ist ihr Tonfall versöhnlicher, und sie gibt sich interessiert. »Wann?«
»Wann? O Gott, vor einer Ewigkeit. Ich habe unser Haus in Richmond von ihr gekauft. Sie besaß einige Häuser. Um die Jahrhundertwende gehörte ihrer Familie ein ganzer Straßenzug. Es war ein riesiges Grundstück, das irgendwann unter den Familienmitgliedern aufgeteilt und später verkauft wurde. Unser Haus war ein richtiges Schnäppchen. Wenn ich nur gewusst hätte, was ich mir dadurch einhandelte.«
»Klingt, als hätten Sie sie nicht sehr gemocht«, erwidert Lucy. Sie tut, als würden sie und Dr. Paulsson sich wunderbar vertragen; so als hätte er sie nicht erst vor ein paar Minuten sexuell belästigt.
»Ständig kam sie zu mir nach Hause oder in die Praxis, um zu jammern. Sie war eine Landplage.«
»Was ist aus ihr geworden?«
»Sie ist gestorben. Vor acht oder zehn Jahren. Lange her.«
»Woran?«, will Lucy wissen.
»Sie litt schon seit einer Weile an Krebs. Sie ist zu Hause gestorben.«
»Einzelheiten«, sagt Benton.
»Was wissen Sie darüber?«, fragt Lucy. »War sie allein, als sie starb? Hatte sie eine große Beerdigung?«
»Warum wollen Sie das alles wissen?« Dr. Paulsson sitzt auf seinem Stuhl und blickt sie an. Doch er fühlt sich sichtlich besser, weil sie freundlich zu ihm ist.
»Es könnte etwas mit Gilly zu tun haben. Ich weiß mehr als Sie, also lassen Sie mich meine Fragen stellen.«
»Vorsicht«, warnt Benton. »Verärgere ihn nicht.«
»Tja, dann fragen Sie«, meint Dr. Paulsson spöttisch.
»Waren Sie auf der Beerdigung?«
»Ich kann mich nicht erinnern, dass eine stattgefunden hätte.«
»Sie muss doch beerdigt worden sein«, beharrt Lucy.
»Sie hat Gott gehasst und ihn für ihre Schmerzen und Leiden verantwortlich gemacht. Auch dafür, dass es niemand lange in ihrer Nähe aushielt, was Sie verstehen könnten, wenn Sie sie gekannt hätten. Eine unangenehme alte Frau. Einfach unerträglich. Ärzte verdienen nicht genug, um sich mit Patientinnen wie ihr herumzuärgern.«
»Und sie ist zu Hause gestorben? Sie hatte Krebs und ist allein zu Hause gestorben?«, wundert sich Lucy. »Wurde sie von einem Pflegedienst betreut?«
»Nein.«
»Eine wohlhabende Frau wie sie stirbt allein zu Hause, ohne die geringste medizinische Hilfe zu erhalten?«
»Mehr oder weniger. Warum ist das so wichtig?« Sein Blick schweift durch das Behandlungszimmer.
»Weil es wichtig ist. Und weil Sie sich selbst damit helfen.« Das ist gleichzeitig Beruhigung und Drohung. »Ich möchte Mrs. Arnettes Krankenakte sehen. Zeigen Sie sie mir. Rufen Sie sie auf Ihrem Computer auf.«
»Ihre Daten habe ich mit Sicherheit gelöscht. Sie ist tot.« Er sieht sie spöttisch an. »Das Komischste daran ist, dass Mrs. Arnette ihre Leiche der Wissenschaft gespendet hat. Sie wollte keine Beerdigung, weil sie Gott hasste. Mir tut der arme Medizinstudent Leid, der sich mit ihrer Leiche herumplagen musste. Manchmal denke ich daran und bedaure den armen Teufel, der das Pech hatte, an ihren hässlichen, verschrumpelten alten Körper zu geraten.« Inzwischen ist Dr. Paulsson ruhiger und selbstsicherer. Und je wohler er sich in seiner Haut fühlt, desto mehr spürt Lucy Hass in sich aufsteigen wie bittere Galle.
»Der Hund«, sagt Benton ihr ins Ohr. »Frag ihn.«
»Was ist aus Gillys Welpen geworden?«, erkundigt sich Lucy. »Ihre Frau sagt, der Hund sei verschwunden, und Sie hätten etwas damit zu tun.«
»Sie ist nicht mehr meine Frau«, entgegnet er. Sein Blick ist hart und kalt. »Und Gilly hatte nie einen Hund.«
»Sweetie«, hakt Lucy nach.
Als er sie ansieht, blitzt etwas in seinen Augen auf.
»Wo ist Sweetie?«, will Lucy wissen.
»Die einzigen Sweeties, die ich kenne, sind Gilly und ich«, antwortet er mit einem höhnischen Grinsen.
»Lassen Sie die Witze«, warnt Lucy. »Hier gibt es nichts zu lachen.«
»Suz nennt mich Sweetie. Das hat sie immer getan. Und ich habe zu Gilly Sweetie gesagt.«
»Das ist die Antwort«, meint Benton. »Es reicht. Verschwinde.«
»Es gab nie einen Hund«, sagt Dr. Paulsson. »Dieses Gefasel ist nichts als Mist.« Als er sich vorbeugt, ahnt sie, was jetzt kommt. »Wer sind Sie?«, fragt er. »Geben Sie mir den Stift.« Er steht auf. »Sie sind nur ein dummes kleines Mädchen, das geschickt worden ist, um mich vor den Richter zu zerren, stimmt’s? Sie denken wohl, Sie könnten Geld aus mir herauspressen. Aber Sie müssen doch einsehen, dass das zwecklos ist. Her mit dem Stift!«
Lucy steht mit hängenden Armen da. Ihre Hände sind bereit.
»Da haben sich wohl einige Flittchen verbündet, um ein paar Dollar zu kassieren.« Als er sich vor ihr aufbaut, weiß sie, was gleich passieren wird.
»Verschwinde«, warnt Benton. »Es ist vorbei.«
»Sie wollen also die Kamera?«, meint Lucy. »Und den Mikro-Recorder?« Allerdings hat sie gar keinen Recorder, der steht nämlich bei Benton. »Wollen Sie die wirklich haben?«
»Wir können ja einfach so tun, als wäre nie etwas vorgefallen«, schlägt Dr. Paulsson lächelnd vor. »Geben Sie mir die Sachen. Sie haben die Informationen, die Sie haben wollten. Also vergessen wir das Ganze einfach. Geben Sie schon her.«
Sie tastet nach dem Funkgerät, das an einer Gürtelschlaufe befestigt ist. Der Draht verläuft durch ein winziges Loch in ihrem Overall. Mit einem Knopfdruck schaltet sie das Gerät aus, und Bentons Bildschirm wird dunkel. Er kann zwar noch hören und sprechen, aber nichts mehr sehen.
»Nicht!«, zischt er ihr ins Ohr. »Du musst sofort verschwinden.«
»Sweetie«, meint Lucy höhnisch zu Dr. Paulsson. »Was für ein Witz. Ich kann mir nicht vorstellen, dass je ein Mensch zu Ihnen Sweetie gesagt hat. Wenn Sie die Kamera und den Recorder wollen, müssen Sie sie sich schon holen.«
Als er sich auf sie stürzen will, läuft er ihr direkt in die Faust. Seine Beine knicken weg, und er sinkt mit einem Stöhnen zu Boden. Im nächsten Moment kauert sie schon auf seinem Rücken. Ein Knie fixiert seinen rechten Arm, während ihre linke Hand seinen linken Arm festhält. Sie dreht ihm die Arme schmerzhaft auf den Rücken.
»Lassen Sie mich los!«, brüllt er. »Sie tun mir weh!«
»Lucy! Nein!«, ruft Benton, aber sie hört nicht auf ihn.
Ihr Atem geht stoßweise, und sie schmeckt ihre eigene Wut, als sie Dr. Paulsson an den Haaren packt und seinen Kopf hochreißt. »Hoffentlich haben Sie sich heute gut amüsiert, Sweetie«, sagt sie und zerrt ihn noch einmal heftig an den Haaren. »Ich sollte Ihnen den gottverdammten Schädel einschlagen. Haben Sie Ihre Tochter missbraucht? Haben Sie sie an die anderen Perversen, die zu Ihnen kamen, als Sexspielzeug verliehen? Haben Sie sie in ihrem eigenen Zimmer belästigt, bevor Sie im letzten Sommer ausgezogen sind?« Sie presst sein Gesicht auf den Boden und drückt so fest zu, als wolle sie ihn in den weißen Fliesen ertränken. Seine Wange schabt am Boden. »Wie vielen Menschen haben Sie das Leben ruiniert, Sie Dreckschwein?« Sie schlägt seinen Kopf kräftig auf den Boden, damit er merkt, dass sie ihm ernsthaft Schaden zufügen könnte. Er stöhnt und schreit.