»Nein«, antwortet Lucy mit fast unhörbarer Stimme und denkt an die Frau mit den Brandverletzungen. »O mein Gott«, murmelt sie.
»Wir befragen gerade sämtliche Anwohner. Ich habe ein paar von unseren Leuten losgeschickt, aber keinen von den Neuen. Die sind nämlich nicht sehr hell.«
»Mein Gott«, wiederholt sie nur. »Klappt denn überhaupt nichts mehr?«
»Allmählich bessert sich die Lage. Ach, da wären noch zwei Dinge. Deine Tante meint, dass Pogue möglicherweise eine Perücke trägt, und zwar eine mit langen schwarzen Locken. Gefärbtes menschliches Haar. Die Mitochondrien-DNS sieht da sicher ziemlich komisch aus und lässt sich vermutlich auf irgendeine Nutte zurückverfolgen, die ihr Haar an einen Perückenmacher verhökert hat, um sich Crack zu kaufen.«
»Was sagst du da? Eine Perücke?«
»Edgar Allan Pogue ist rothaarig. Deine Tante hat rote Haare im Bett seines Hauses gefunden, das heißt, in dem Haus in Richmond, wo er gewohnt hat. Eine Perücke könnte die Erklärung für die langen, gewellten gefärbten Haare sein, die in Gilly Paulssons Bettwäsche, in deinem Schlafzimmer und auch an dem Isolierband der Bombe in deinem Briefkasten entdeckt wurden. Nach Ansicht deiner Tante würde eine Perücke auch viele andere Fragen beantworten. Außerdem suchen wir sein Auto. Offenbar hat die alte Frau, die verstorbene Bewohnerin des Hauses, in dem er sich versteckt hatte, einen weißen 91er Buick gefahren. Niemand hat eine Ahnung, was nach ihrem Tod aus dem Wagen geworden ist. Die Familie hat sich nicht darum gekümmert. Scheint so, als wäre die Frau selbst ihnen auch egal gewesen. Wir glauben, dass Pogue diesen Buick benutzt, der immer noch auf Mrs. Arnette zugelassen ist. Es wäre gut, wenn du so bald wie möglich zurückkommst. Allerdings solltest du besser nicht bei dir zu Hause übernachten.«
»Keine Sorge«, erwidert sie. »In dieses Haus setze ich keinen Fuß mehr.«
51
Edgar Allan Pogue schließt die Augen. Er sitzt in seinem weißen Buick auf einem Parkplatz am Highway A1A und hört Musik, die heutzutage Classic Rock heißt. Die Augen fest geschlossen, versucht er, den Husten zu unterdrücken. Wenn er hustet, brennen ihm die Lungen, und ihm wird schwindelig und kalt. Er weiß nicht, wo das Wochenende geblieben ist, aber alles ist gut gelaufen. Der Radiosprecher sagt etwas von Berufsverkehr. Montagmorgen. Pogue hustet, und Tränen treten ihm in die Augen, als er mühsam durchatmet.
Er hat eine Erkältung. Bestimmt hat er sich bei der rothaarigen Kellnerin in der Other Way Lounge angesteckt. Als er sich am Freitagabend verabschieden wollte, ist sie nah an seinen Tisch getreten. Sie hat sich die Nase mit einem Papiertaschentuch geputzt und stand viel zu dicht bei ihm, weil sie sichergehen wollte, dass er auch bezahlt. Wie immer musste er zuerst seinen Stuhl zurückschieben und aufstehen, bevor sie ihn eines Blickes würdigte. Eigentlich hätte er Lust auf einen weiteren Bleeding Sunset gehabt und hätte auch noch einen bestellt, aber das war der rothaarigen Kellnerin offenbar zu lästig. Diesen Weibern ist alles zu lästig. Deshalb hat sie auch die Große Orange bekommen, die sie verdient.
Die Sonne scheint durch die Windschutzscheibe und wärmt Pogues Gesicht. Er hat den Sitz zurückgeschoben und die Augen geschlossen und hofft, dass die Sonne seine Erkältung kurieren wird. Seine Mutter hat immer gesagt, dass Sonnenlicht Vitamine enthält und fast alles heilen kann. Deshalb ziehen die Leute im Alter ja auch nach Florida. Das hat sie ihm immer gepredigt. Eines Tages, Edgar Allan, ziehst du nach Florida. Noch bist du jung, doch eines Tages wirst du alt und abgearbeitet sein wie ich und die meisten anderen Leute, und dann kannst du nach Florida ziehen. Wenn du nur eine anständige Arbeit hättest, Edgar Allan. Bei deinem Gehalt bezweifle ich, dass du dir Florida je leisten kannst.
Seine Mutter hat ständig über Geld gejammert und lag ihm damit pausenlos in den Ohren. Schließlich ist sie gestorben und hat ihm viel Geld hinterlassen, damit er eines Tages nach Florida ziehen kann, falls er das will. Dann ist er in Frührente gegangen, und alle zwei Wochen kam ein Scheck mit der Post. Wahrscheinlich liegt der letzte Scheck inzwischen in seinem Postfach, weil er nicht in Richmond ist, um ihn abzuholen. Aber auch ohne seine Schecks hat er etwas Geld. Momentan genügt es noch. Er kann sich seine teuren Zigarren leisten, also reicht es. Wenn seine Mutter hier wäre, würde sie ihm Vorhaltungen machen, weil er trotz seiner Erkältung raucht. Aber er wird jetzt eine Zigarre rauchen. Er denkt daran, dass er die Grippeimpfung verpasst hat, und das nur deshalb, weil er gehört hatte, dass sein altes Gebäude abgerissen werden solle und dass der große Fisch ein Büro in Hollywood eröffnen wolle. In Florida.
Zuerst erfuhr er, dass Virginia einen neuen Chefpathologen eingestellt habe und dass das alte Gebäude abgerissen werde und einem Parkhaus weichen müsse. Und Lucy ist in Florida. Wenn Scarpetta Pogue und Richmond nicht im Stich gelassen hätte, wäre ein neuer Chefpathologe überflüssig gewesen. Dem alten Gebäude wäre nichts passiert, da alles unverändert geblieben wäre, und er hätte seine Grippeimpfung nicht verpasst. Der Abriss seines alten Gebäudes ist falsch und ungerecht, doch niemand hat ihn nach seiner Meinung gefragt. Es war sein Gebäude. Er bekommt immer noch alle zwei Wochen einen Gehaltsscheck, besitzt immer noch einen Schlüssel zur Hintertür und arbeitet immer noch in der Anatomie, hauptsächlich nachts.
Er hat dort nach Herzenslust gearbeitet, bis er gehört hat, dass das Gebäude abgerissen werden soll. Er war der Einzige, der es noch nutzte. Sonst interessierte sich niemand dafür, und nun musste er plötzlich seine Sachen ausräumen. All die Leute, die er da unten in kleinen zerdrückten Kartons aufbewahrte, mussten spät nachts verlegt werden, wenn niemand ihn beobachtete. Was für eine Plackerei, die Treppe hinauf und hinunter und auf dem Parkplatz zum Wagen und zurück zu gehen. Seine Lungen brannten, während die Asche auf den Asphalt rieselte. Ein Karton rutschte beim Tragen vom Stapel, sodass sich die Asche auf den Parkplatz ergoss. Es war sehr schwierig, sie zusammenzufegen, denn sie schien leichter als Luft zu sein und verteilte sich überall. Was für eine schreckliche Plackerei. Es ist ungerecht. Und ehe er es sich versah, war ein Monat vorbei, und er hatte seine Grippeimpfung verpasst. Es gab keinen Impfstoff mehr. Er hustet, seine Lunge brennt, und Tränen treten ihm in die Augen. Völlig reglos sitzt er in der Sonne, saugt Vitamine auf und denkt an den großen Fisch.
Wenn sie ihm einfällt, fühlt er sich niedergeschlagen und wütend. Sie weiß nichts über ihn und hat ihn niemals gegrüßt. Seine steifen Lungen hat er nur ihr zu verdanken. Sie ist schuld, dass er ruiniert ist. Sie besitzt eine Villa und dazu Autos, die mehr gekostet haben als jedes Haus, in dem er je gewohnt hat. An dem Tag, als es geschah, war es ihr zu lästig, sich bei ihm zu entschuldigen. Sie hat sogar gelacht. Offenbar fand sie es lustig, dass er zur Seite sprang und einen leisen Schrei ausstieß wie ein kleiner Hund, als er aus dem Einbalsamierraum kam und sie auf einem Rollwagen an ihm vorbeiraste. Sie stand auf einer Sprosse des Wagens und sauste lachend vorüber, während ihre Tante neben einer offenen Wanne stand und mit Dave über irgendein Problem bei der Generalversammlung sprach.
Scarpetta ließ sich nur blicken, wenn es Probleme gab. An diesem Tag, es war etwa um dieselbe Jahreszeit wie heute, also kurz vor Weihnachten, hatte sie die verwöhnte, altkluge Lucy mitgebracht. Er hatte wie alle hier schon von Scarpettas Nichte gehört und wusste, dass sie aus Florida war und bei Scarpettas Schwester in Miami wohnte. Pogue kennt zwar nicht alle Einzelheiten, aber er ist im Bilde. Auch damals war ihm schon klar, dass Lucy Vitamine aufsaugen konnte, ohne dass ständig jemand jammerte und nörgelte, sie würde es nie weit genug bringen, um nach Florida zu ziehen.