Weil sie nämlich schon dort lebte und dort geboren war, ohne je etwas getan zu haben, um es sich zu verdienen. Und dann hat sie Pogue ausgelacht. Sie sauste auf dem Rollwagen vorbei und fuhr ihn fast um, als er, ein leeres Zweihundert-Liter-Formaldehydfass auf einem Karren, vorbeikam. Wegen Lucy sprang er zur Seite. Der Karren kippte um, das Fass fiel herunter und rollte davon, und Lucy raste weiter wie eine freche Göre in einem Supermarkt, die mit einem Einkaufswagen spielt. Nur dass sie kein Kind mehr war, sondern ein Teenager, eine ausgesprochen freche, hübsche, arrogante Siebzehnjährige. Pogue erinnert sich noch genau an ihr Alter. Er weiß, wann sie Geburtstag hat. Jahrelang hat er ihr an ihrem Geburtstag anonyme Beileidskarten geschickt, und zwar an Scarpettas Adresse im alten Büro der Gerichtsmedizin Fourteenth Street North Nummer 9, auch nachdem das Gebäude bereits geräumt war. Er bezweifelt, dass Lucy die Karten je erhalten hat.
An jenem verhängnisvollen Tag stand Scarpetta an der offenen Wanne. Sie trug einen Labormantel über einem sehr eleganten dunklen Kostüm, weil sie, wie sie Dave erzählte, einen Termin mit einem Politiker hatte, um das besagte Problem zu erörtern. Sie wollte mit diesem Politiker über irgendeine dämliche Gesetzesinitiative sprechen. Pogue hat vergessen, worum es dabei ging, weil die Gesetzesinitiative damals für ihn keine Rolle spielte. Er holt Luft, und in seinen steifen Lungen rasselt es, während er in der Sonne sitzt. Scarpetta sah sehr gut aus, wenn sie so elegant gekleidet war wie an diesem Morgen. Es hat Pogue immer geschmerzt, sie ansehen zu müssen, während sie ihn nicht beachtete, und wenn er sie aus der Ferne beobachtete, spürte er einen Stich im Herzen, den er nicht beschreiben konnte. Was er für Lucy empfindet, steht auf einem anderen Blatt. Er erahnt Scarpettas tiefe Gefühle für sie, und deshalb ist auch Lucy ihm nicht gleichgültig. Aber es ist dennoch etwas anderes.
Das leere Fass verursachte beim Rollen über den Fliesenboden einen Höllenlärm. Pogue lief los, um es aufzuhalten, als es sich Lucy und dem Wagen näherte. Da es unmöglich war, ein Zweihundert-Liter-Fass Formaldehyd bis auf den letzten Tropfen zu leeren, schwappte der Rest der Flüssigkeit am Boden hin und her, während das Fass weiterkullerte. Einige Tropfen spritzten Pogue ins Gesicht, als er nach dem Fass griff, und einer geriet in seinen Mund, sodass er ihn herunterschluckte. Als er sich hustend und kotzend über der Toilette krümmte, hat niemand nach ihm gesehen. Scarpetta nicht. Und Lucy ganz bestimmt nicht. Durch die geschlossene Toilettentür hörte er, wie sie wieder auf dem Rollwagen herumfuhr und lachte. Niemand ahnte, dass Pogues Leben in diesem Augenblick endgültig zerstört worden war.
»Ist alles in Ordnung? Ist alles in Ordnung, Edgar Allan?«, fragte Scarpetta durch die geschlossene Tür, allerdings ohne hereinzukommen.
Er hat ihre Worte inzwischen so oft Revue passieren lassen, dass er nicht mehr weiß, ob er sich wirklich noch richtig an ihre Stimme erinnert.
Ist alles in Ordnung, Edgar Allan?
Ja, Ma’am, ich wasche mich nur.
Als Pogue schließlich aus der Toilette kam, stand Lucys Rollwagen mitten im Raum, und sie war fort. Scarpetta ebenfalls. Dave war auch weg. Nur Pogue war noch da, und er würde sterben, an einem einzigen Tropfen Formaldehyd, den er in seinen Lungen explodieren und rot glühende Funken sprühen fühlte. Er war allein.
Wissen Sie, ich kenne mich also aus, erklärte er später Mrs. Arnette, während er sechs Flaschen mit rosafarbener Flüssigkeit zum Einbalsamieren neben ihrem Edelstahltisch aufreihte. Manchmal muss man eben leiden, um das Leid anderer spüren zu können, sagte er und schnitt dabei Schnurstücke von einer Rolle auf dem Wagen ab. Natürlich erinnern Sie sich daran, wie viel Zeit ich mit Ihnen verbracht habe, als wir über Ihre Unterlagen, Ihre Absichten und die Frage geredet haben, ob Sie lieber ans Medical Center of Virginia oder an die University of Virginia gespendet werden wollten. Sie sagten, Sie liebten Charlottesville, und ich habe Ihnen deshalb versprochen, dafür zu sorgen, dass Sie an die University of Virginia kämen. Stundenlang habe ich bei Ihnen gesessen und Ihnen zugehört. Ich bin immer gekommen, wenn Sie mich angerufen haben. Zuerst wegen Ihrer Papiere und dann, weil Sie jemanden zum Reden brauchten und befürchteten, sich nicht gegen Ihre Familie durchsetzen zu können.
Ihre Angehörigen sind machtlos, habe ich Ihnen erklärt. Bei diesen Papieren handelt es sich um rechtsgültige Dokumente. Es ist Ihr letzter Wille, Mrs. Arnette. Wenn Sie möchten, dass Ihre Leiche der Wissenschaft gespendet und später von mir verbrannt wird, ist Ihre Familie machtlos dagegen.
Pogue betastet die sechs aus Messing und Blei bestehenden .38er Patronen tief in seiner Tasche. Er sitzt in seinem weißen Buick in der Sonne und erinnert sich, dass er sich nie im Leben so mächtig gefühlt hat wie während seiner Gespräche mit Mrs. Arnette. Bei ihr war er Gott. Bei ihr war er das Gesetz.
Ich bin eine unglückliche alte Frau, und nichts klappt mehr, Edgar Allan, meinte sie bei ihrer letzten Begegnung. Mein Arzt wohnt auf der anderen Seite dieses Zauns und findet es lästig, nach mir zu sehen, Edgar Allan. Werden Sie bloß nie so alt.
Das werde ich nicht, versprach Pogue.
Die Leute auf der anderen Seite des Zauns sind komisch, erzählte sie mit einem anzüglichen Lachen, das wohl etwas andeuten sollte. Seine Frau ist eine richtige Schlampe. Kennen Sie sie?
Nein, Ma’am. Ich glaube nicht.
Da haben Sie nichts versäumt. Sie schüttelte den Kopf und warf ihm einen vielsagenden Blick zu. Gehen Sie ihr aus dem Weg.
Das werde ich, Mrs. Arnette. Wirklich schrecklich, dass Ihr Arzt sich nicht um Sie kümmert. So was sollte verboten werden.
Leute wie er kriegen, was sie verdienen, sagte sie vom Bett im Hinterzimmer ihres Hauses aus. Glauben Sie mir, Edgar Allan: Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus. Ich kenne ihn jetzt schon so lange, und ich bin ihm lästig. Ganz bestimmt wird er nicht für mich unterschreiben.
Was meinen Sie damit?, fragte Pogue. Sie sah so klein und zerbrechlich aus, wie sie da in ihrem Bett lag, unter vielen Schichten von Laken und Decken, weil ihr einfach nicht mehr warm wurde.
Naja, wenn man geht, muss doch jemand unterschreiben, oder?
Natürlich. Der Hausarzt unterschreibt den Totenschein. Mit dem Sterben kannte Pogue sich aus.
Er wird zu beschäftigt sein. Denken Sie an meine Worte. Und dann? Schickt der liebe Gott mich dann wieder weg? Sie lachte, ein freudloses, raues Lachen. Das tut er sicher. Der liebe Gott und ich verstehen uns nämlich nicht sehr gut.
Das kann ich nachvollziehen, versicherte ihr Pogue. Aber machen Sie sich keine Sorgen, fügte er in dem Wissen, dass er in diesem Moment Gott war, hinzu. Gott war nämlich nicht Gott, Pogue war es. Wenn dieser Arzt auf der anderen Seite des Zauns nicht für Sie unterschreibt, Mrs. Arnette, kümmere ich mich darum.
Wie?
Es gibt Wege.
Sie sind der netteste junge Mann, den ich je kennen gelernt habe, sagte sie vom Bett aus. Ihre Mutter hat großes Glück mit Ihnen gehabt.
Da war sie aber anderer Ansicht.
Dann war sie eine böse Frau.
Ich unterschreibe selbst für Sie, versprach Pogue. Ich sehe diese Dokumente jeden Tag, und die Hälfte davon ist von Ärzten unterschrieben, denen alles gleichgültig ist.
Alles ist heutzutage gleichgültig, Edgar Allan.
Ich fälsche die Unterschrift, wenn es sein muss. Zerbrechen Sie sich also nicht den Kopf darüber.
Sie sind so ein Schatz. Was hätten Sie denn gerne von meinen Sachen? In meinem Testament steht, dass meine Verwandten dieses Haus nicht verkaufen können. Damit habe ich sie ordentlich drangekriegt. Sie können in meinem Haus wohnen, aber verraten Sie es meinen Verwandten nicht. Natürlich können Sie auch mein Auto haben, aber ich bin so lange nicht damit gefahren, dass vermutlich die Batterie leer ist. Ich weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird. Was wollen Sie? Sagen Sie es einfach. Ich wünschte, ich hätte einen Sohn wie Sie.
Ihre Zeitschriften, antwortete er. Die Filmzeitschriften.