»Und der Vater?«
»Alkoholiker. Hat vor langer Zeit Selbstmord begangen. Es muss ungefähr zwanzig Jahre her sein. Ich möchte Ihnen gleich sagen, dass ich Edgar Allan nicht gut kenne. Von Zeit zu Zeit kommt er wegen alltäglicher Dinge zu mir, hauptsächlich um sich gegen Grippe und Lungenentzündung impfen zu lassen. Das tut er jeden September, pünktlich wie die Uhr.«
»Auch in diesem Jahr?«, will Scarpetta wissen.
»Offen gestanden nein. Ich habe mir, kurz bevor Sie kamen, seine Akte angesehen. Er war am 14. Oktober hier und hat sich gegen Lungenentzündung impfen lassen, allerdings nicht gegen Grippe. Ich fürchte, mir war der Impfstoff ausgegangen. Sie wissen ja, dass es da einen Engpass gab. Deshalb hat er sich nur gegen Lungenentzündung impfen lassen und ist wieder gegangen.«
»War an seinem Besuch etwas auffällig?«
»Er kam rein, sagte guten Tag, und ich fragte ihn, wie es seiner Lunge gehe. Er leidet an einer schweren interstitiellen Lungenfibrose, ausgelöst durch fortwährenden Kontakt mit Konservierungsflüssigkeit. Offenbar hat er in einem Beerdigungsinstitut gearbeitet.«
»Nicht ganz«, erwidert sie. »Er war mein Mitarbeiter.«
»Verflixt und zugenäht!«, ruft der Arzt überrascht aus. »Das habe ich nicht gewusst. Warum hat er nur …? Tja, zumindest hat er behauptet, er sei stellvertretender Direktor eines Beerdigungsinstituts.«
»Er hat gelogen. In Wahrheit war er in der Anatomie beschäftigt, und zwar schon, als ich in den späten Achtzigern dort anfing. 1997 ist er wegen Arbeitsunfähigkeit in Frührente gegangen, kurz bevor wir in das neue Gebäude in der East Fourth Street umgezogen sind. Was hat er Ihnen über seine Lungenkrankheit erzählt? Kontakt mit Konservierungsmitteln?«
»Er sagte, er habe eines Tages ein paar Spritzer Formaldehyd abbekommen und eingeatmet. Die Geschichte ist ziemlich bizarr. Edgar Allan ist zugegebenermaßen ein wenig seltsam, das war mir schon immer klar. Seiner Darstellung nach hat er eine Leiche im Beerdigungsinstitut einbalsamiert und vergessen, ihr den Mund zu verstopfen. So lautete wenigstens seine Version. Die Flüssigkeit sei zu schnell geflossen und der Leiche aus dem Mund gequollen, weil der Schlauch gerissen sei. Wirklich grotesk. Aber was erzähle ich Ihnen? Wenn er für Sie gearbeitet hat, kennen Sie ihn besser als ich, und ich brauche seine abstrusen Geschichten nicht zu wiederholen.«
»Diese ist mir völlig neu«, meint sie. »Ich erinnere mich nur daran, dass er mit Formaldehyd in Kontakt gekommen ist und Fibrose hatte. Oder besser Lungenfibrose.«
»Daran besteht kein Zweifel. Sein interstitielles Gewebe ist vernarbt, und eine Biopsie ergab eine erhebliche Schädigung des Lungengewebes. Er simuliert nicht.«
»Wir müssen ihn finden«, meint Scarpetta. »Haben Sie vielleicht einen Tipp für uns, wo wir suchen sollten?«
»Was ist mit seinen ehemaligen Kollegen?«
»Die überprüft die Polizei bereits. Allerdings verspreche ich mir nicht viel davon. Als er für mich arbeitete, war er ein Einzelgänger«, antwortet sie. »Ich weiß, dass er in ein paar Tagen ein neues Rezept für sein Prednison braucht. Ist er in dieser Hinsicht zuverlässig?«
»Meiner Erfahrung nach läuft es bei ihm phasenweise, was die Medikamente angeht. Ein Jahr lang mag er gewissenhaft sein, und dann setzt er das Zeug wieder monatelang ab, weil er davon dick wird.«
»Ist er denn übergewichtig?«
»Bei seinem letzten Besuch war er es.«
»Wie groß ist er, und wie viel hat er gewogen?«
»Etwa eins siebzig groß. Im Oktober sah er aus, als wöge er mindestens neunzig Kilo. Ich habe ihm erklärt, wie sehr das seine Atmung belastet, ganz zu schweigen von seinem Herzen. Mit den Kortikosteroiden ist es bei ihm wegen seiner Gewichtsprobleme ein ewiges Hin und Her. Außerdem kann er recht paranoid werden, wenn er die Medikamente nimmt.«
»Befürchten Sie eine Steroidpsychose?«
»Darauf sollte man immer achten. Wenn Sie so was je miterlebt haben, tun Sie das ganz automatisch. Allerdings ist bei Edgar Allan schwer zu sagen, ob er wegen der Medikamente so merkwürdig ist oder ob er es auch ohne sie wäre. Wie hat er es denn getan, wenn ich mir die Frage erlauben darf? Wie hat er das Mädchen getötet?«
»Haben Sie schon mal von Burke und Hare gehört? Zwei Männer im Schottland des frühen neunzehnten Jahrhunderts, die Menschen töteten und ihre Leichen an die Anatomie verkauften.
Damals waren Leichen zum Sezieren ziemlich knapp, und die Medizinstudenten mussten frische Gräber schänden oder sich Leichen auf sonstige illegale Weise beschaffen, wenn sie anatomische Kenntnisse erwerben wollten.«
»Grabschändung«, sagt Dr. Philpott. »Das so genannte Burking ist mir ein Begriff, obwohl mir nie ein moderner Fall zu Ohren gekommen ist. Ich glaube, die Männer, die die Gräber schändeten, um Leichen zum Sezieren zu beschaffen, nannte man damals Resurrektionisten.«
»Heutzutage geht es nicht mehr darum, jemanden zu töten, um seine Leiche zu verkaufen. Doch Burking kommt immer noch vor. Es ist schwer festzustellen, und die Dunkelziffer ist ziemlich hoch.«
»Tritt der Tod durch Ersticken oder Arsen ein?«
»In der forensischen Pathologie bezeichnet Burking einen Mord durch mechanische Asphyxie. Der Legende zufolge pflegte Burke sich ein schwaches Opfer auszusuchen, für gewöhnlich einen alten Menschen, ein Kind oder einen Kranken, sich auf die Brust des Betreffenden zu setzen und ihm gleichzeitig Mund und Nase zuzuhalten.«
»Und ist das auch mit dem armen Mädchen passiert?«, fragt Dr. Philpott, und tiefe, bedrückte Falten zeigen sich auf seinem Gesicht. »Ist es das, was er ihm angetan hat?«
»Wie Ihnen sicher bekannt ist, stellt man häufig eine Diagnose auf der Basis dessen, dass es keine gibt. Ein Ausschlussverfahren sozusagen«, entgegnet Scarpetta. »Bei ihr wurde nichts weiter als frische Blutergüsse festgestellt, die durchaus darauf hinweisen, dass jemand auf ihrer Brust saß und die Hände festhielt. Außerdem hatte sie Nasenbluten.« Viel mehr möchte sie nicht sagen. »Natürlich ist das streng vertraulich.«
»Ich habe keine Ahnung, wo er stecken könnte«, sagt Dr. Philpott mit finsterer Miene. »Falls er aus irgendeinem Grund anruft, verständige ich Sie sofort.«
»Ich gebe Ihnen die Nummer von Pete Marino.« Sie schreibt sie auf.
»Edgar Allan gehört wie gesagt nicht zu den Menschen, die ich gut kenne. Offen gestanden war er mir nie sehr sympathisch. Er ist seltsam und kam mir unheimlich vor. Als seine Mutter noch lebte, begleitete sie ihn stets zu den Terminen, auch dann noch, als er bereits ein erwachsener Mann war, bis kurz vor ihrem Tod.«
»Woran ist sie gestorben?«
»Wenn Sie mich so direkt fragen, fand ich die Umstände ihres Todes ein bisschen merkwürdig«, sagt er bedrückt. »Sie war fettsüchtig und lebte ausgesprochen ungesund. Eines Winters erkrankte sie an der Grippe und starb zu Hause. Damals erschien mir das nicht weiter verdächtig. Inzwischen habe ich so meine Zweifel.«
»Darf ich mir seine Akte ansehen? Und auch ihre, falls Sie die noch haben?«, erkundigt sich Scarpetta.
»Ihre habe ich nicht griffbereit, weil sie schon so lange tot ist. Aber in seine können Sie einen Blick werfen. Warten Sie hier, ich hole sie. Sie liegt auf meinem Schreibtisch.« Als er aufsteht und die Küche verlässt, wirken seine Bewegungen langsamer als zuvor, und er macht einen erschöpften Eindruck.
Scarpetta schaut aus dem Fenster und beobachtet, wie ein blauer Eichelhäher ein Vogelhäuschen plündert, das am kahlen Ast einer Eiche hängt. Er wirkt wie ein blau gefiedertes Wutbündel, und das Vogelfutter fliegt in alle Richtungen, als er sich darüber hermacht, bis er sich schließlich mit einem Schwirren seiner blauen Schwingen abstößt und verschwindet. Edgar Allan Pogue könnte ungeschoren davonkommen. Fingerabdrücke beweisen nicht viel, und man wird Art und Ursache der Todesfälle in Zweifel ziehen. Unmöglich zu sagen, wie viele Menschen er auf dem Gewissen hat. Und sie muss sich jetzt darüber Gedanken machen, was er getrieben hat, als er noch für sie tätig war. Was hat er in den unterirdischen Räumen angestellt? Sie sieht ihn in seinem Arbeitsanzug vor sich. Damals war er blass und mager. Sie weiß noch, wie sich sein bleiches Gesicht ihr zuwandte und er ihr verstohlene Blicke zuwarf, wenn sie aus dem grässlichen Lastenaufzug stieg, um sich mit Dave zu unterhalten. Der konnte Edgar Allan nicht leiden und hat sicher keine Ahnung, wo er stecken mag.