Wegen der bedrückenden Atmosphäre dort unten ist Scarpetta so selten wie möglich in die Anatomie gegangen. Außerdem bekam die Abteilung so geringe staatliche Mittel und derart wenig Geld von den Universitäten, die die Leichen anforderten, dass für die Würde der Toten nicht mehr viel getan werden konnte. Das Krematorium war ständig defekt. In einer Ecke lehnten Baseballschläger, denn wenn die Verbrennungsreste aus dem Ofen genommen wurden, mussten einige Knochenfragmente zerschmettert werden, damit sie in die billigen, vom Staat gestellten Urnen passten. Eine Mühle wäre zu teuer gewesen, während ein Baseballschläger sich großartig dazu eignet, Knochenstücke in handliche Teile oder in Pulver zu verwandeln. Scarpetta möchte nicht daran denken, was dort unten vor sich ging. Sie ließ sich in dieser Abteilung nur blicken, wenn es nicht anders ging, und machte einen großen Bogen um das Krematorium, um die Baseballschläger nicht sehen zu müssen.
Ich hätte eine Mühle kaufen sollen, denkt sie, als sie dasitzt und das leere Vogelhäuschen betrachtet. Ich hätte eine von meinem eigenen Geld anschaffen müssen. Die Baseballschläger hätte ich nie erlauben dürfen. Inzwischen würde ich sie verbieten.
»Hier«, sagt Dr. Philpott. Er kehrt in die Küche zurück und reicht ihr eine dicke Akte, auf der in Druckbuchstaben Pogues Name steht. »Ich muss mich jetzt um meine Patienten kümmern. Aber ich komme später nochmal zu Ihnen.«
Offen gestanden hatte Scarpetta von Anfang an eine Abneigung gegen die Anatomie. Sie ist forensische Pathologin und Anwältin, nicht Inhaberin eines Bestattungsunternehmens. Stets ging sie davon aus, dass die Toten in der Anatomie ihr nichts mitzuteilen hatten, weil sich um ihr Ableben kein Geheimnis rankte. Falls es so etwas wie einen friedlichen Tod gibt, war er bei diesen Menschen eingetreten. Scarpettas Mission hingegen sind diejenigen Toten, die nicht friedlich aus dem Leben geschieden sind. Und da sie nicht mit den Leichen in den Wannen sprechen wollte, hat sie den unterirdischen Teil ihrer Welt damals gemieden. Sie hat um die Leute, die dort arbeiteten, sowie um die Verstorbenen einen Bogen gemacht. Sie wollte sich nicht mit Dave oder mit Edgar Allan abgeben. Nein, auf keinen Fall. Wenn rosafarbene Leichen an Winden und Ketten hochgezogen wurden, wollte sie nicht dabei sein.
Ich hätte aufmerksamer sein müssen, denkt sie, während sie vom Kaffee ein saures Gefühl im Magen hat. Ich hätte mehr tun können. Bedächtig studiert sie Pogues Krankenakte. Ich hätte eine Mühle anschaffen sollen, sagt sie sich erneut, während sie nachsieht, welche Adresse Pogue angegeben hat. Laut Akte hat er bis 1996 in Ginter Park im Norden der Stadt gewohnt und dann ein Postfach als Adresse genannt. In seiner Akte steht nirgends, wo er seit 1996 wohnt, und sie fragt sich, ob er damals in das Haus hinter dem Gartenzaun der Paulssons eingezogen ist. In Mrs. Arnettes Haus. Vielleicht hat er sie ja auch umgebracht und anschließend ihr Haus benutzt.
Eine Meise landet auf dem Vogelhäuschen vor dem Fenster. Scarpetta beobachtet sie, während ihre Hand reglos auf Pogues Akte ruht. Sonnenlicht streift warm die linke Seite ihres Gesichts, als sie zusieht, wie der kleine graue Vogel mit funkelnden Augen und zuckendem Schwanz das Futter aufpickt. Ihr ganzes Berufsleben lang ist sie vor den Bemerkungen geflohen, die unwissende Menschen über Ärzte machen, deren Patienten tot sind. Sie sei morbide veranlagt. Sie sei seltsam und komme mit den Lebenden nicht zurecht. Forensische Pathologen seien Eigenbrötler, schrullig, kalt und bar jeglichen Mitgefühls, da sie als Ärzte, Väter, Mütter, Liebhaber und Menschen versagt hätten.
Wegen solcher Vorurteile unwissender Menschen hat sie die dunklen Seiten ihres Berufs ignoriert, und sie möchte das auch weiterhin tun. Sie versteht Edgar Allan Pogues Schrulligkeit. Auch wenn sie nicht so empfindet wie er, kann sie sie nachvollziehen. Sie sieht sein bleiches Gesicht und die verstohlenen Blicke in ihre Richtung, und sie erinnert sich an den Tag, als sie Lucy einmal mit nach unten nahm. Ihre Nichte verbrachte die Weihnachtsferien bei ihr und begleitete sie gern ins Büro. Da Scarpetta an diesem Tag etwas mit Dave zu besprechen hatte, kam sie mit in die Anatomie. Und sie benahm sich – typisch Lucy – wild, ungebärdig und pietätlos. Irgendetwas ist an besagtem Tag geschehen. Was war es nur?
Die Meise pickt das Futter auf und beobachtet Scarpetta unentwegt durch die Scheibe. Als sie die Kaffeetasse hebt, flattert der Vogel davon. Fahles Sonnenlicht spiegelt sich in der weißen Tasse, die das Wappen des Medical College of Virginia trägt. Scarpetta steht von Dr. Philpotts Küchentisch auf und wählt Marinos Mobilfunknummer.
»Ja«, meldet er sich.
»Er kommt nicht mehr nach Richmond«, sagt sie. »Er ist schlau genug, um zu wissen, dass wir ihn suchen. Außerdem eignet sich Florida großartig für Lungenkranke.«
»Dann sollte ich besser bald hinfliegen. Was ist mit dir?«
»Ich muss noch etwas erledigen, dann bin ich fertig mit dieser Stadt.«
»Brauchst du meine Hilfe?«
»Nein danke«, erwidert sie.
53
Die Bauarbeiter machen Mittagspause, sitzen auf Betonklötzen oder auf den Sitzen ihrer großen gelben Maschinen und essen. Schutzhelme und wettergegerbte Gesichter wenden sich Scarpetta zu, als sie durch den dicken roten Morast watet und dabei ihren langen dunklen Mantel rafft wie einen langen Rock.
Sie sieht weder den Vorarbeiter, mit dem sie letztens gesprochen hat, noch jemand anderen, der hier das Sagen haben könnte. Die Arbeiter beobachten sie, ohne dass jemand nach ihrem Anliegen fragt. Einige Männer in staubiger dunkler Kleidung haben sich um einen Bulldozer geschart. Sie essen ihre Sandwiches, trinken Cola und starren sie an, während sie mit gerafftem Mantel durch den Schlamm auf sie zugeht.
»Ich suche den Vorarbeiter«, sagt sie, als sie die Männer erreicht hat. »Ich muss ins Gebäude.«
Sie wirft einen Blick auf die Überreste ihres ehemaligen Büros. Inzwischen ist der vordere Teil halb abgerissen, doch der hintere Flügel ist noch intakt.
»Unmöglich«, antwortet einer der Arbeiter mit vollem Mund. »Hier kommt keiner rein.« Er kaut weiter und betrachtet sie, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf.
»Der hintere Teil des Gebäudes scheint noch in Ordnung zu sein«, erwidert sie. »Als ich Chefpathologin war, lag dort mein Büro. Ich war letztens schon hier, um wegen Mr. Whitbys Tod zu ermitteln.«
»Sie können da nicht rein«, wiederholt derselbe Mann. Er wirft seinen Kollegen, die schweigend dastehen und dem Gespräch lauschen, einen Blick zu, der wohl besagen soll, dass er sie für verrückt hält.
»Wo ist Ihr Vorarbeiter?«, fragt sie. »Ich möchte mit ihm sprechen.«
Der Mann nimmt ein Telefon vom Gürtel und wählt eine Nummer. »Hey, Joe«, sagt er. »Hier ist Bobby. Erinnerst du dich an die Frau, die letztens hier war? Die Frau mit dem dicken Cop aus Los Angeles? … Ja, ja, richtig. Sie ist wieder da und will mit dir reden … Okay.« Er beendet das Gespräch und sieht sie an. »Warum wollen Sie denn da rein? Da ist doch nichts mehr.«
»Nur Gespenster«, meint ein anderer Mann, und seine Kollegen lachen.
»Wann genau haben Sie mit den Abrissarbeiten angefangen?«, fragt Scarpetta.
»Vor etwa einem Monat. Kurz vor Thanksgiving. Aber wir mussten etwa eine Woche Schlechtwetterpause machen. Wegen dem Eissturm.«
Die Männer diskutieren, an welchem Tag die Abrissbirne zum ersten Mal zugeschlagen hat. Scarpetta sieht einen Mann um die Hausecke kommen. Er trägt khakifarbene Arbeitshosen, eine dunkelgrüne Jacke und Stiefel. Den Helm unter den Arm geklemmt und eine Zigarette rauchend, kommt er auf sie zu.
»Das ist Joe«, sagt der Bauarbeiter namens Bobby. »Aber der wird Sie auch nicht reinlassen. Und das ist besser so – es ist nämlich gefährlich.«