»Mussten Sie den Strom noch abschalten lassen, als Sie mit dem Abriss anfingen, oder war das bereits erledigt?«, fragt sie.
»Wir würden doch kein Haus abreißen, wo noch Saft drauf ist.«
»Aber er war noch nicht lange abgeklemmt«, wendet ein anderer Mann ein. »Bevor wir losgelegt haben, ist doch das ganze Gebäude nochmal durchsucht worden. Dazu haben sie bestimmt Licht gebraucht, oder nicht?«
»Keine Ahnung.«
»Guten Tag«, wendet sich Joe, der Vorarbeiter, an Scarpetta. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich muss in das Gebäude. Durch die Hintertür neben dem Rolltor.«
»Kommt nicht in Frage«, sagt er entschieden und schüttelt mit einem Blick auf das Gebäude den Kopf.
»Kann ich Sie kurz unter vier Augen sprechen?«, meint Scarpetta. Sie entfernen sich ein paar Schritte von den anderen Arbeitern.
»Nein, zum Teufel! Ich lasse Sie da nicht rein. Was wollen Sie überhaupt in dem Gebäude?«, sagt Joe, nachdem sie etwa drei Meter weit weg und mehr oder weniger außer Hörweite sind. »Es ist gefährlich. Was suchen Sie dort?«
»Passen Sie auf«, erwidert sie. Inzwischen steht sie mit beiden Füßen im Schlamm und hat es aufgegeben, ihren Mantelsaum schützen zu wollen. »Ich war bei Mr. Whitbys Obduktion anwesend, und wir haben merkwürdige Spuren an seiner Leiche gefunden. Mehr darf ich nicht sagen.«
»Das soll wohl ein Witz sein.«
Sie hat gewusst, dass sie damit sein Interesse wecken würde, und fügt hinzu: »Ich muss da drin etwas überprüfen. Ist es wirklich so gefährlich, oder haben Sie nur Angst vor einer Klage, Joe?«
Er starrt auf das Gebäude, kratzt sich am Kopf und fährt mit den Fingern durch sein Haar. »Na ja, es wird nicht gleich über uns zusammenstürzen, wenigstens nicht dort hinten. Vorne würde ich aber wirklich nicht reingehen.«
»Das will ich auch gar nicht«, entgegnet sie. »Hinten genügt mir. Wir können die Hintertür neben dem Rolltor benutzen. Rechts am Ende des Flurs ist eine Treppe, über die wir eine Etage tiefer ins unterste Geschoss kommen. Da muss ich hin.«
»Die Treppe kenne ich. Ich war schon mal drin. Sie wollen also ins erste Untergeschoss? Gütiger Himmel! Das wird nicht leicht.«
»Wie lange ist der Strom schon abgeschaltet?«
»Ich habe mich vergewissert, bevor wir losgelegt haben.«
»Dann gab es bei Ihrer ersten Begehung noch Strom?«, hakt sie nach.
»Man konnte Licht machen. Es war Sommer, als ich das erste Mal im Gebäude war. Inzwischen ist es da drin stockfinster. Was für Spuren meinen Sie? Ich verstehe das nicht. Glauben Sie, dass er nicht nur vom Traktor überfahren worden ist? Ich meine, seine Frau veranstaltet ein Riesentheater und erhebt alle möglichen Vorwürfe. Alles Schwachsinn. Ich war dabei. Er ist einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und hat am Anlasser rumgespielt.«
»Ich muss trotzdem nachsehen«, erwidert sie. »Sie können ja mitkommen. Das wäre mir sogar lieber. Ich will wirklich nur einen kurzen Blick hineinwerfen. Die Hintertür ist vermutlich abgeschlossen, und ich habe keinen Schlüssel.«
»Tja, davon lassen wir uns nicht aufhalten.« Er blickt zwischen dem Gebäude und seinen Männern hin und her. »Hey, Bobby!«, ruft er. »Kannst du ein Loch in die Hintertür bohren? Und zwar sofort … Also gut«, meint er zu Scarpetta. »Meinetwegen begleite ich Sie hinein. Die Bedingung ist, dass wir uns vom vorderen Teil fernhalten und es kurz machen.«
54
Lichter huschen über die Wände und die beige lackierten Betonstufen. Ihre Schritte machen schlurfende Geräusche, als sie in die Tiefen hinabsteigen, wo Edgar Allan Pogue während Scarpettas Amtszeit gearbeitet hat. In den ersten beiden Etagen des Gebäudes gibt es keine Fenster, da sie durch die ehemalige Leichenhalle eingetreten sind und Leichenhallen normalerweise keine Fenster haben. Weil unter der Erde ohnehin keine Fenster existieren, ist das Treppenhaus stockfinster. In der feuchten Luft liegt der beißende Geruch von Staub.
»Als ich hier herumgeführt wurde«, sagt Joe, der vor ihr die Treppe hinuntergeht, sodass der Schein seiner Taschenlampe bei jedem Schritt wippt, »haben sie diesen Teil ausgespart. Sie haben mir nur die oberen Stockwerke gezeigt. Ich dachte, hier käme bloß der Keller. Unten war ich noch nie.« Sein Tonfall klingt beklommen.
»Sie hätten es Ihnen zeigen sollen«, erwidert Scarpetta. Der Staub kratzt in ihrer Kehle und juckt auf der Haut. »Dort unten sind zwei Bodenwannen, etwa sechs mal sechs Meter groß und drei Meter tief. Es wäre nicht gut, wenn Sie mit einem Traktor dort hineingerieten oder gar hineinfielen.«
»So ein Mist!«, sagt er wütend. »Sie hätten mir wenigstens Fotos zeigen müssen. Sechs mal sechs Meter. Verdammt! Jetzt bin ich wirklich sauer. Hier kommt die letzte Stufe. Vorsicht.« Er leuchtet die Umgebung ab.
»Wir sollten jetzt in einem Flur sein. Gehen Sie nach links.«
»Sieht aus, als gäbe es keinen anderen Weg.« Langsam setzt er sich in Bewegung. »Warum zum Teufel haben sie uns diese Wannen verschwiegen?« Er kann es nicht fassen.
»Keine Ahnung. Hängt davon ab, wer Sie herumgeführt hat.«
»Irgendein Typ. Den Namen weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur, dass er von der Stadtverwaltung war und sich hier ziemlich unwohl fühlte. Wahrscheinlich kannte er sich selbst nicht im Gebäude aus.«
»Durchaus möglich«, meint Scarpetta und betrachtet den schmutzig weißen Fliesenboden, der im Schein ihrer Taschenlampe stumpf schimmert. »Sie wollten einfach nur, dass der Laden abgerissen wird. Der Mann von der Stadtverwaltung hatte vermutlich nichts von den Bodenwannen gehört. Bestimmt hat er nie einen Fuß in die Anatomie gesetzt. Es sind nur wenige Leute je hier heruntergekommen. Gleich da drüben sind sie.« Sie weist mit der Taschenlampe geradeaus. Der Lichtstrahl verdrängt die undurchdringliche Dunkelheit in dem leeren Raum und beleuchtet schwach die rechteckigen Abdeckungen der Bodenwannen, die aus dunklem Metall bestehen. »Tja, die Deckel sind drauf. Ich weiß nicht, ob das gut ist oder nicht«, sagt sie. »Jedenfalls lagern hier unten gefährliche biologisch kontaminierte Abfälle. Seien Sie vorsichtig, wenn Sie diesen Teil des Gebäudes abreißen.«
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen … Ich fasse es nicht«, entgegnet er ärgerlich und nervös, während er die Umgebung ableuchtet.
Scarpetta geht von den Wannen zum hinteren Bereich der Anatomieabteilung, der sich auf der anderen Seite des großen Raums befindet, vorbei an der kleinen Kammer, wo die Einbalsamierungen durchgeführt wurden. Mit der Taschenlampe leuchtet sie hinein. Ein Stahltisch, an den dicke, in den Boden führende Rohre angeschlossen sind, ein stählernes Waschbecken und Schränke gleiten im Lichtstrahl vorbei. An der Wand lehnt ein verrosteter Rollwagen, auf dem eine zusammengefaltete Plastikhülle liegt. Links von dem Raum befindet sich eine Nische, und sie hat das Krematorium aus Betonblöcken bereits vor Augen, noch bevor sie es wirklich sieht. Dann fällt ihr Lichtstrahl auf die lange Eisentür in der Wand, und sie erinnert sich, wie sie das Feuer durch den Spalt in der Tür beobachtet hat. Staubige Stahlbahren mit Leichen darauf wurden hineingeschoben, und wenn sie herauskamen, waren nur noch Asche und Knochenstücke übrig. Sie denkt an die Baseballschläger, mit denen die Stücke zermalmt wurden, und wird von Scham ergriffen.
Der Lichtstrahl huscht über den Boden, der immer noch weiß von Staub und kleinen Knochensplittern ist, die wie Kreide aussehen. Beim Gehen spürt sie ein Knirschen unter den Sohlen. Joe ist ihr nicht gefolgt. Er wartet vor der Nische und hilft ihr aus der Entfernung, indem er den Boden und die Ecken ausleuchtet. Ihr Schatten, im Mantel und mit Schutzhelm, zeichnet sich riesengroß an der Betonwand ab. Dann gleitet das Licht über das Auge. Es ist mit schwarzem Sprühlack auf der beigefarbenen Betonwand angebracht. Ein großes schwarzes, starrendes Auge mit Wimpern.
»Was zum Teufel ist das?«, fragt Joe. Sie ahnt, dass er ebenfalls das Auge an der Wand betrachtet, obwohl sie das nicht sehen kann. »Mein Gott, was ist das?«