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Scarpetta antwortet nicht und lässt den Lichtstrahl weiterwandern. Die Baseballschläger stehen nicht mehr in der Ecke, in der sie gelehnt haben, als sie noch Chefpathologin war. Doch sie erkennt einen großen Haufen Asche und Knochen. Eine ziemliche Menge, denkt sie. Das Licht fällt auf eine Sprühdose mit schwarzem Lack und zwei Lackdosen, eine rot, die andere blau und beide leer, die sie in einem Plastikbeutel verstaut. Die Sprühdose steckt sie in einen anderen Beutel. Außerdem entdeckt sie einige alte Zigarrenkisten mit Ascheresten darin, Zigarrenstummel auf dem Boden und eine zerknitterte braune Papiertüte. Ihre behandschuhten Hände greifen in den Lichtkegel und heben die Tüte auf. Papier knistert, als sie sie öffnet, und ihr ist klar, dass diese Tüte nicht schon seit acht Jahren hier unten liegt, nein, noch nicht einmal seit zwölf Monaten.

Ein leichter Geruch nach Zigarren steigt ihr in die Nase, und zwar nicht nach gerauchten Zigarren, sondern nach unverbranntem Tabak. Als sie in die Tüte leuchtet, entdeckt sie Tabakkrümel und eine Quittung. Joe beobachtet sie und richtet seine Lampe auf die Tüte in ihrer Hand. Sie betrachtet die Quittung und fühlt sich verwirrt und wie im Traum, als sie das Datum abliest. Es ist der 14. September, der Tag, an dem Edgar Allan Pogue – und sie ist sicher, dass er es war – in einem Tabakladen gleich die Straße hinunter im James Center mehr als einhundert Dollar für zehn Zigarren der Marke Romeo y Julieta ausgegeben hat.

55

Das James Center gehört nicht zu den Orten, die Marino während seiner Zeit als Polizist in Richmond besucht hat. Seine Marlboros hat er nicht in schicken Tabakläden gekauft, und Zigarren hat er sich nie geleistet, weil selbst eine billige Zigarre ziemlich teuer für ein einziges Raucherlebnis ist. Außerdem hätte er sie ohnehin nicht gepafft, sondern inhaliert. Da er inzwischen fast gar nicht mehr raucht, kann er es zugeben: Er hätte Zigarrenrauch inhaliert.

Das Atrium wird von Glas, Lichtern und Pflanzen dominiert, und das Plätschern von Brunnen und Wasserfällen folgt Marino, als er zu dem Laden eilt, wo Edgar Allan Pogue knapp drei Monate vor dem Mord an der kleinen Gilly Zigarren gekauft hat.

Es ist noch vor zwölf Uhr mittags, und in den Läden ist nicht viel los. Einige Leute in schicken Anzügen trinken Kaffee oder hasten umher, als würden sie irgendwo dringend erwartet und wären mit wichtigen Dingen beschäftigt. Marino kann Leute wie die im James Center nicht ausstehen. Er kennt ihresgleichen. Und zwar schon seit seiner Kindheit, auch wenn er keine persönlichen Erfahrungen mit ihnen gemacht hat. Aber er hat schon viel von ihnen gehört. Sie gehören zu der Sorte von Menschen, die sich nie die Mühe gemacht haben, sich mit Marinos Kreisen auseinander zu setzen. Er geht schnell und ärgert sich. Als ein Mann in einem eleganten Nadelstreifenanzug an ihm vorbeirauscht, ohne ihn wahrzunehmen, denkt er: Du hast ja keine Ahnung. Leute wie du verstehen einen Scheißdreck vom Leben.

Im Tabakladen ist die Luft mit einer süßlichen Symphonie von Tabakdüften geschwängert, die Sehnsucht in Marino weckt. Da er nicht weiß, was das bedeutet, schiebt er es sofort aufs Rauchen, das er schrecklich vermisst. Er ist traurig und aufgebracht, weil ihm die Zigaretten fehlen. Das Herz tut ihm weh, und er fühlt sich tief in seinem Innersten erschüttert, weil er weiß, dass er nie mehr wieder so rauchen können wird wie früher. Es ist unmöglich. Er hat sich etwas vorgemacht, als er glaubte, er könnte sich hin und wieder eine Zigarette gönnen, doch diese Hoffnung war eine Illusion. Seine unstillbare Gier nach Tabak und seine verzweifelte Liebe zu ihm ist Wahnwitz und ohne Zukunft. Marino wird schlagartig von Trauer ergriffen, weil er nie wieder eine Zigarette anzünden, tief inhalieren und den Rausch empfinden wird, diese Glückseligkeit, die seinen ständigen Begleiter, den Schmerz, lindert. Es schmerzt, wenn er aufwacht, es schmerzt, wenn er sich schlafen legt, es schmerzt in seinen Träumen, und es schmerzt, wenn er hellwach ist. Er blickt auf die Uhr, denkt an Scarpetta und fragt sich, ob ihr Flug wohl Verspätung hatte. Heutzutage haben ja die meisten Flüge Verspätung.

Marinos Arzt hat ihn gewarnt, dass er mit sechzig einen Sauerstofftank auf dem Rücken tragen würde wie ein Indianerbaby, wenn er so weiterrauchte. Irgendwann wird er dann nach Luft schnappend sterben wie die arme Gilly, die nach Atem rang, als dieser Verrückte auf ihr saß und ihr die Hände festhielt. Voller Panik lag sie unter ihm, während jede Zelle in ihrer Lunge nach Luft schrie und ihr Mund versuchte, nach Mama und Papa zu rufen. Aber Gilly konnte keinen Mucks von sich geben. Und was hat sie getan, um einen solchen Tod zu verdienen? Nichts, denkt Marino, während er die Zigarrenkisten in den dunklen Regalen dieses kühlen und duftenden Tabakladens für Reiche betrachtet. Wahrscheinlich steigt Scarpetta gerade ins Flugzeug, sagt er sich und entdeckt die Kistchen mit Romeo-y-Julieta-Zigarren. Wenn der Flug keine Verspätung hat, sitzt sie vermutlich schon in der Maschine, die nach Westen, nach Denver, fliegt. Nach Scarpettas Entdeckung in ihrem alten Gebäude haben sie verabredet, dass Marino noch diesen einen Auftrag in Richmond erledigt, während sie schon mal vorfliegt.

»Sagen Sie Bescheid, wenn ich Ihnen helfen kann«, sagt ein Mann in grauem V-Ausschnitt-Pullover und brauner Cordhose hinter der Theke. Die Farbe seiner Kleidung und sein graues Haar erinnern Marino an Rauch. Der Mann arbeitet in einem Tabakladen voller Rauchwaren und hat die Farbe von Rauch angenommen. Wahrscheinlich geht er am Ende des Arbeitstags nach Hause und qualmt nach Herzenslust, während Marino allein in ein Hotelzimmer zurückkehrt und sich nicht einmal eine anzünden, geschweige denn Rauch inhalieren darf. Inzwischen kennt er die Wahrheit. Er weiß es. Er muss verzichten. Er hat sich etwas vorgemacht und sich eingeredet, dass es doch einen Ausweg gibt, und er wird von Trauer und Scham ergriffen.

Marino holt die Quittung aus der Jackentasche, die Scarpetta auf dem mit Knochenstaub bedeckten Boden in der Anatomieabteilung ihres alten Gebäudes gefunden hat. Das Stück Papier steckt in einem durchsichtigen Plastikbeutel. Er legt es auf die Theke.

»Wie lange arbeiten Sie schon hier?«, fragt Marino den Mann hinter der Theke.

»Bald zwölf Jahre«, erwidert er lächelnd. Doch in seinen rauchgrauen Augen steht ein gewisser Blick. Marino erkennt Angst und tut nichts, um sie zu zerstreuen.

»Dann kennen Sie sicher Edgar Allan Pogue. Er war am 14. September dieses Jahres hier und hat diese Zigarren gekauft.«

Stirnrunzelnd beugt der Mann sich vor und mustert das Stück Papier in der Tüte. »Die Quittung ist von uns«, stellt er fest.

»Gratuliere, Sherlock. Ein kleiner, rundlicher Typ mit rotem Haar«, fährt Marino fort und macht auch weiterhin nicht die geringsten Anstalten, den Mann zu beruhigen. »Mitte dreißig. Hat früher drüben in der Gerichtsmedizin gearbeitet.« Er weist auf die Fourteenth Street. »Wahrscheinlich hat er sich komisch benommen, als er hier war.«

Der Mann wirft einen Blick auf Marinos LAPD-Baseballkappe. Er ist bleich und nervös. »Wir verkaufen keine kubanischen Zigarren.«

»Was?« Marino verzieht finster das Gesicht.

»Falls das Ihre Frage ist. Er könnte welche verlangt haben, aber so etwas führen wir nicht.«

»Er kam rein und hat kubanische Zigarren verlangt?«

»Er war sehr beharrlich, vor allem bei seinem letzten Besuch«, antwortet der Mann stockend. »Aber wir führen keine kubanischen Zigarren und auch sonst nichts Illegales.«

»Das habe ich auch gar nicht behauptet, und außerdem bin ich weder von der Behörde für Alkohol, Tabak und Feuerwaffen noch von der Lebens- und Arzneimittelaufsicht, vom Gesundheitsamt oder vom Büro des gottverdammten Osterhasen«, entgegnet Marino. »Es ist mir scheißegal, ob Sie unter der Ladentheke mit kubanischen Zigarren handeln.«

»Ich schwöre Ihnen, dass es nicht so ist.«

»Ich interessiere mich nur für Pogue. Erzählen Sie mir von ihm.«