Выбрать главу

»Ich erinnere mich an ihn«, antwortet der Mann, dessen Gesicht inzwischen auch die Farbe von Rauch hat. »Ja, er wollte kubanische Zigarren. Cohibas, nicht die dominikanischen, die wir im Sortiment haben. Ich habe ihm erklärt, dass wir keine kubanischen Zigarren führen. Das ist nämlich verboten … Sie sind nicht von hier, richtig? Sie klingen nämlich, als wären Sie von auswärts.«

»Von hier bin ich ganz sicher nicht«, gibt Marino zurück. »Was hat Pogue sonst noch gesagt? Und wann war das? Wann war er zum letzten Mal hier?«

Der Mann betrachtet die Quittung auf der Theke. »Vermutlich danach noch einmal. Ich glaube, es muss im Oktober gewesen sein. Er kam etwa einmal im Monat. Ein wirklich sehr merkwürdiger Mensch.«

»Im Oktober? Gut. Was wollte er sonst noch?«

»Er hat kubanische Zigarren verlangt und gemeint, er würde jeden Preis dafür bezahlen. Ich habe beteuert, dass wir keine haben. Er wusste das, weil er schon öfter danach gefragt hatte. Aber so beharrlich wie beim letzten Mal war er noch nie gewesen. Ein komischer Mann. Immer wieder hat er dieselbe Frage gestellt und ließ sich einfach nicht abweisen. Er behauptete, kubanischer Tabak sei besser für die Lungen, oder einen ähnlichen Blödsinn. Man könne so viele kubanische Zigarren rauchen, wie man wolle, ohne sich zu schaden. Sie seien sogar gesund und rein und hätten eine heilsame Wirkung. Alberner Kram eben.«

»Was haben Sie ihm geantwortet? Lügen Sie mich bloß nicht an. Es ist mir scheißegal, ob Sie ihm kubanische Zigarren verkauft haben. Ich muss diesen Mann finden. Falls er überzeugt davon ist, dass das Zeug gut für seine kaputte Lunge ist, wird er versuchen, es sich anderweitig zu besorgen. Und wenn er so darauf fixiert ist, kriegt er es auch irgendwo.«

»Er ist wirklich darauf fixiert. Bei seinem letzten Besuch war es unmöglich, ihn davon abzubringen. Fragen Sie mich nicht, warum«, erwidert der Mann und starrt auf die Quittung. »Es gibt doch auch andere gute Zigarren in rauen Mengen. Warum müssen es denn unbedingt kubanische sein? Ich verstand zwar den Grund nicht, aber er wollte sie unbedingt haben. Ich musste an manche Kranken denken, die sich auf irgendein Zauberkraut oder Marihuana versteifen, oder an Leute, die an Arthritis leiden und sich Gold spritzen lassen. Sehr seltsam. Ich habe ihn zu einem anderen Laden geschickt und ihn gebeten, mich nicht mehr nach kubanischen Zigarren zu fragen.«

»Zu welchem Laden?«

»Tja, eigentlich ist es ein Restaurant, wo, wie ich gehört habe, so manches verkauft wird oder man zumindest weiß, wie es zu beschaffen ist. An der Bar. Alles, was Sie wollen. So habe ich es wenigstens aufgeschnappt. Ich verkehre selbst nicht dort und habe nichts damit zu tun.«

»Wo?«

»Unten im Slip«, antwortet er. »Nur ein paar Straßen von hier.«

»Kennen Sie Läden in Südflorida, die kubanische Zigarren führen? Haben Sie ihm vielleicht einen Laden in Florida empfohlen?«

»Nein«, entgegnet der Mann und schüttelt den grauen Kopf. »Davon weiß ich nichts. Fragen Sie im Slip nach. Da kann man Ihnen bestimmt weiterhelfen.«

»Gut. Und jetzt kommt die Eine-Million-Dollar-Frage.« Marino steckt den Plastikbeutel wieder ein. »Sie haben Pogue also von dem Lokal im Slip erzählt, wo er möglicherweise kubanische Zigarren bekommen kann?«

»Ich habe ihm erklärt, dass einige Leute in der Bar dort Zigarren kaufen«, sagt der Mann.

»Und wie heißt das Lokal?«

»Stripes. Die Bar heißt Stripes und ist in der Cary Street. Ich wollte ihn abwimmeln, weil er so seltsam war. Ich fand ihn schon immer komisch. Seit Jahren kam er alle paar Monate her und redete eigentlich nicht viel«, erzählt der Mann. »Aber beim letzten Mal, im Oktober, war er noch merkwürdiger als sonst. Er hatte einen Baseballschläger bei sich. Ich fragte ihn nach dem Grund dafür, aber er hat mir nicht geantwortet. Außerdem war er früher nicht so beharrlich, was die kubanischen Zigarren anging. Doch an diesem Tag ist er beinahe durchgedreht. Cohibas, wiederholte er nur, und dass er welche haben wolle.«

»War der Baseballschläger rot, weiß und blau?«, erkundigt sich Marino. Er denkt an Scarpetta, Mühlen, Knochenstaub und alles, was sie ihm berichtet hat, als sie Dr. Philpotts Praxis verließ.

»Kann sein«, erwidert der Mann mit einem argwöhnischen Blick. »Worum, zum Teufel, geht es hier eigentlich?«

56

In den Wäldern rings um die Stadthäuser sind die fleckig weißen und grauen Espen in dunkle, kalte Schatten gehüllt. Die kahlen Bäume stehen dicht, sodass Lucy und Henri sich ducken und Zweige und winterstarre Schösslinge aus dem Weg schieben müssen, um voranzukommen. Ihre Schneeschuhe verhindern nicht, dass der Schnee ihnen bis zu den Knien reicht. Die glatte weiße Oberfläche ist, wohin das Auge blickt, frei von menschlichen Fußspuren.

»Das ist doch Wahnsinn«, sagt Henri und stößt keuchend Dampfwolken aus. »Warum tun wir das?«

»Weil wir frische Luft und Bewegung brauchen«, entgegnet Lucy und gerät in eine Schneewehe, die ihr fast bis zum Oberschenkel geht. »Wow! Schau dir das an. Unbeschreiblich schön!«

»Ich finde, du hättest nicht herkommen sollen«, meint Henri, bleibt stehen und sieht sie im hereinbrechenden Dämmerlicht an, das den Schnee bläulich verfärbt. »Ich habe es überwunden. Außerdem habe ich genug von hier und kehre nach Los Angeles zurück.«

»Es ist dein Leben.«

»Ich weiß, dass du das nicht so meinst. Immer wenn du so cool daherredest, kriegst du eine lange Nase.«

»Lass uns noch ein bisschen weitergehen«, schlägt Lucy vor und stürmt los. Dabei achtet sie darauf, dass keine Zweige oder zarten jungen Bäume zurückschnellen und Henri im Gesicht treffen, obwohl sie es möglicherweise verdient hat. »Dort liegt ein alter umgestürzter Baum. Ich bin ziemlich sicher, dass ich ihn vom Weg aus gesehen habe, als ich herkam. Wir können den Schnee abwischen und uns setzen.«

»Wir werden erfrieren«, protestiert Henri. Sie macht einen langen Schritt und pustet eine Wolke gefrorenen Atem aus.

»Du frierst doch jetzt nicht etwa?«

»Mir ist warm.«

»Wenn uns kalt wird, stehen wir einfach auf und kehren um.«

Henri antwortet nicht. Seit ihrer Grippe und dem Überfall hat sie deutlich an Kondition verloren. Als Lucy ihr in Los Angeles zum ersten Mal begegnete, war sie in ausgezeichneter körperlicher Verfassung, zwar nicht sehr groß, aber dafür kräftig. Sie konnte Hanteln stemmen, die so viel wogen wie sie selbst, und schaffte zehn Klimmzüge, während die meisten Frauen schon mit einem Drittel ihres Körpergewichts und einem einzigen Klimmzug überfordert sind. Sie lief anderthalb Kilometer in sieben Minuten. Jetzt würde sie gerade einmal anderthalb Kilometer Gehen hinkriegen. In einem knappen Monat hat Henri abgebaut, und es wird täglich schlimmer, weil sie etwas verloren hat, das noch wichtiger ist als ihre Körperkraft: ihre Mission. Sie hat keine Mission mehr. Lucy befürchtet allerdings, dass Henri noch nie eine hatte und nur eitel war. Das Feuer der Eitelkeit brennt rasch und heiß und verglüht schnell.

»Gleich da oben«, sagt Lucy. »Da ist er. Siehst du den großen Baumstamm? Dahinter liegt ein kleiner gefrorener Bach, und da drüben ist die Schönheitsfarm.« Sie deutet mit dem Skistock. »Fitnessraum und anschließend Dampfbad, das wäre jetzt das Größte.«

»Ich kriege keine Luft mehr«, keucht Henri. »Seit der Grippe habe ich das Gefühl, dass meine Lungen auf die Hälfte geschrumpft sind.«

»Du hattest eine Lungenentzündung«, hält Lucy ihr vor Augen. »Oder hast du das vergessen? Du hast eine Woche lang Antibiotika geschluckt. Als diese Sache passierte, hast du immer noch welche genommen.«

»Ja, als die Sache passierte. Ständig geht es um diese Sache.« Sie betont das Wort Sache. »Fängt jetzt die Sprachkosmetik an?« Sie tritt in Lucys Fußstapfen, weil ihre Kräfte erlahmen und ihr der Schweiß ausbricht. »Mir tut die Lunge weh.«

»Wie sollen wir uns denn sonst ausdrücken?« Lucy hat den umgestürzten Stamm erreicht. Früher einmal gehörte er zu einem großen Baum, doch nun ist er nur noch eine Hülle, der Überrest eines gewaltigen Schiffes. Sie fängt an, die dicke Schneeschicht abzuwischen. »Wie würdest du es bezeichnen?«