»Sie gehen nicht weg.«
»Sie meinen, sie werden nicht evakuiert?«
»Nö.«
»Warum nicht?«
Der Mann zuckte mit den Achseln. »Aus verschiedenen Gründen, nehme ich an. Manche weigern sich einfach zu gehen. Andere sind zu alt. Sie verkraften die Erdschwerkraft nicht mehr.«
»Das müssen sie doch auch nicht«, erwiderte Thorpe. »Jeder, der mit der Erdschwerkraft nicht zurechtkommt, wird so lange auf den Raumstationen untergebracht, bis andere Regelungen gefunden werden.«
»Vielleicht mögen sie diese anderen Regelungen nicht«, sagte der Mann. Er reichte Thorpe eine Schlüsselkarte. »Drei Ebenen weiter unten, zweites Zimmer rechts. Sie werden Ihr Gepäck selber tragen müssen, fürchte ich.«
»Kein Problem.«
An diesem Abend aß Thorpe bei Luigi’s und bat sogar um denselben Tisch, an dem er und Amber mal gesessen hatten. Die Wandbilder waren immer noch dieselben, aber die Waldlichtung funkelte nicht mehr so wie früher. Die wenigen Ober waren offenbar Aushilfskräfte. Thorpe vermutete, dass sie einfach nur Leute waren, die auf ihre Evakuierung warteten. Und das Essen war, als es endlich gebracht wurde, die fade Hausmannskost einer Autoküche. Der Ober entschuldigte sich halbherzig dafür und erklärte, dass der Koch vor einer Woche evakuiert worden sei.
Später, auf dem Rückweg zu seinem Hotel, entdeckte Thorpe, dass die alten Leute verschwunden waren. Ihre Stelle hatten vereinzelte Banden Jugendlicher eingenommen. Etwas in ihrem Verhalten sagte ihm, dass sie ebenfalls nicht vorhatten abzureisen.
Zum ersten Mal fragte er sich ernsthaft, wie vollständig die Evakuierung sein würde. Die ersten Simulationen an der Sorbonne waren fürchterlich gewesen. Gegen Ende der Konferenz hatten die Computer errechnet, dass es möglich wäre, Luna in der zur Verfügung stehenden Zeit zu evakuieren – wenn auch knapp. Doch Computer wurden von Menschen programmiert, und während er ein jugendliches Trio vorbeistolzieren sah, fragte sich Thorpe, ob die Programmierer wohl alle Eventualitäten berücksichtigt hatten.
Am nächsten Morgen bot er der Menge am Raumhafen erneut die Stirn und kämpfte sich zu einer Umkleidekabine durch, wo er in seinen Raumanzug schlüpfte. Dann ging er, den Helm unter den Arm geklemmt, zur Abfertigungshalle für lokale Flüge. Sein Pilot wartete bereits auf ihn.
»Sind Sie Thorpe?«, fragte der kleine grauhaarige Mann.
»Ja.«
»Ich bin Gianelli. Ausrüstung dabei? Gut, machen wir, dass wir hier wegkommen, bevor es sich jemand in den Kopf setzt, ich hätte einen Flug von hier weg anzubieten. Könnte einen Tumult auslösen.«
»Hat es viele Krawalle gegeben?«
»Hängt davon ab, wie man ›viele‹ definiert«, lautete die knappe Antwort.
Sie gingen an Bord des Hüpfers, der denen glich, die Thorpe während der Forschungsexpedition zu Donnerschlag geflogen hatte. Der Pilot stieg mit vollem Schub aus dem Mare Procellarum auf, sobald sie sich angeschnallt hatten.
»Schaffen Sie es bis zum Orbit?«, fragte Thorpe, als er aus der Kabinenkuppel auf die unter ihnen vorbeiziehende Landschaft hinausschaute.
»Wenn ich es schaffen würde, glauben Sie, ich wäre dann noch da?«, fragte Gianelli. »Ich bin erst in zwei Wochen dran, weil sie Hüpfer brauchen, um die Bürokraten herumzuchauffieren. Die verdammte Republik zahlt mir kaum etwas dafür. Das war einer der Gründe, warum ich mich auf diesen Charter gestürzt habe. Was für eine Art von Narr sind Sie eigentlich, he?«
»Das habe ich mich die letzten zwölf Stunden über auch schon gefragt«, antwortete Thorpe. »Es sieht so aus, als gerieten die Dinge in Luna City allmählich außer Kontrolle.« Er erzählte Gianelli von den Banden, die er gesehen hatte.
»Yeah«, bestätigte der Pilot. »Meistens sind es Kids, die aus dem einen oder anderen Grund ihre Platzreservierung haben verfallen lassen. Manche sind zurückgeblieben, um zu plündern, andere hatten Krach mit ihren Eltern und haben sich davongemacht. Die Politik der Regierung ist, dass jeder, der seinen Platz verfallen lässt, ans Ende der Liste rückt. Diejenigen, die dann immer noch gehen wollen, werden den letzten Schiffen zugeteilt.«
»Warum erlaubt ihnen die Stadt, so im Großen Verteiler herumzuziehen?«
»Der Stadt bleibt im Grunde gar keine andere Wahl. Die ganze Polizei ist unten im Raumhafen, um dort für Ordnung zu sorgen. Sie machen gelegentlich mal eine Razzia im Großen Verteiler, aber bei seiner Spiralstruktur ist es leicht für die Gangs, sie rechtzeitig zu sehen.«
Anschließend sprachen sie nicht mehr viel. Gianelli war mit der Navigation beschäftigt, und Thorpe tief in Gedanken versunken. Sie landeten in Hadley’s Crossroads ohne Zwischenfall. Thorpe erfuhr bald darauf, dass der Rolligon von der Regierung requiriert worden war, um bei der Evakuierung zu helfen.
»Wie soll das Observatoriumspersonal rauskommen?«, fragte er den Beamten, den er am Schalter der Einschienenbahn vorfand.
»Ich hab keine Ahnung, Mister! Es heißt, sie haben ihre eigenen Vorkehrungen getroffen. Ich weiß, dass noch’ne Menge da draußen sind. Sie versuchen, dieses Teleskop mitzunehmen. Eine Verschwendung von Frachtraum, wenn Sie mich fragen.«
»Wie komme ich zum Observatorium hinaus?«
»Sie haben doch den MoonJumper«, erklärte der Beamte. »Warum nehmen Sie nicht den?«
»Ich dachte, Flüge zum Observatorium wären untersagt?«
»Sie haben die Einschränkungen gelockert, als der Notstand ausgerufen wurde. Ich weiß genau, dass dort drau ßen seit einem Monat Schiffe landen und starten.«
»Danke«, sagte Thorpe. Er spürte seinen Piloten auf, der einige Familien, die auf die Evakuierung durch die Einschienenbahn warteten, für einen Rückflugcharter zu gewinnen versuchte. Thorpe bot Gianelli für den Hundertzwanzig Kilometer-Sprung das Gleiche, was er ihm für den Flug von Luna City bis hierher gezahlt hatte.
Als sie den Mendelejew-Krater erreicht hatten, ließ sich Thorpe vom Piloten einen ganzen Kilometer vom gro ßen Teleskop entfernt absetzen. Er wollte es vermeiden, dass die Arbeit zunichte wurde, die die Astronomen in die Rettung des Teleskops investiert hatten. Er ließ sich an einem der vier Landebeine des Hüpfers hinunter und begann in Richtung des Observatoriums zu wandern. Er war kaum zweihundert Meter weit gekommen, als ein heftiger Windstoß den Mondstaub um ihn herum aufwirbelte. Als er sich umwandte, sah er, wie der Hüpfer auf einer weißen Flammensäule rasch in den schwarzen Himmel stieg. Er wendete auf der Stelle und verschwand in Richtung Westen.
Als sich Thorpe dem Teleskop näherte, bemerkte er zahlreiche Gestalten, die sich auf den Trägern zu schaffen machten. Eine von ihnen löste sich aus der Arbeitsmannschaft und kam ihm entgegen. Wer es auch sein mochte, er hatte offenbar das Schiff abheben sehen und nur darauf gewartet, bis Thorpe zu ihnen herübergekommen war.
»Wer in aller Welt sind Sie?«, fragte die Stimme eines Mannes über den allgemeinen Anrufkanal. Die Stimme gehörte Cragston Barnard.
»Hallo, Crag. Hier ist Tom Thorpe. Ist Amber Hastings hier?«
»Thomas!«, rief Amber sofort auf dem gleichen Kanal. Als er sich umdrehte, sah er eine Gestalt vom oberen Teil des Teleskoprahmens abspringen und in der niedrigen ondschwerkraft langsam herunterschweben. Sobald sie am Boden angekommen war, stürmte Amber mit raumgreifenden Schritten auf ihn zu.
Sie erreichte ihn mit so großer Geschwindigkeit, dass sie ihn beinahe umgeworfen hätte. Sie schlang ihre Arme um ihn und presste ihren Helm gegen seinen. Der Kuss, durch zwei Lagen unzerbrechliches Plastik getrennt, war der nbefriedigendste, den Thorpe jemals erlebt hatte. Aber er war immer noch besser als gar nichts. Als sie ihn endlich freigab, fragte sie ihn, was er hier täte.
»Du wolltest doch eigentlich dreißig Tage vor Eintreffen des Kometen von hier verschwinden. Warum bist du immer noch hier?«