»Ich kann noch nicht weg, Thomas. Wir sind immer noch dabei, das Teleskop abzubauen.«
»Ich bin gekommen, um dich herauszuholen.«
»Mich herausholen?«, rief sie mit einem Anflug von Ärger in der Stimme. »Was gedenkst du zu unternehmen, um selber wegzukommen?«
Niels Grayson blickte Thorpe über einen Tisch in der Kantine des Observatoriums hinweg an. Amber saß neben Thorpe, den Kopf auf seine Schulter gelegt.
»Die Ordnung beginnt zusammenzubrechen«, sagte Grayson, während er zusah, wie Thorpe ein Steak verschlang. »Zu viele Beamte haben ihre Posten verlassen und sind mit den Schiffen verschwunden. Nur noch die wichtigsten Dienste sind besetzt, und dann auch nur mit der geringstmöglichen Anzahl von Leuten.«
Thorpe erzählte ihnen von den Ansammlungen alter Menschen und den herumlungernden Banden, die er in Luna City gesehen hatte.
»In Tycho Terrace ist es noch schlimmer«, erwiderte Amber. »Dort haben sie die Kontrolle über die Stadt ganz verloren. Die Polizei und sämtliche für die Evakuierung vorgesehenen Leute haben sich im Raumhafen versammelt. Seitdem sie von Banden außerhalb der Stadt angegriffen wurde, fährt die Bahn nicht mehr.«
»Das glaube ich gern. ransportmittel scheinen sehr gefragt zu sein. Ich dachte schon, ich wäre gestrandet, als ich in Hadley’s Crossroads keinen Rolligon bekommen konnte.«
»Die Republik hat alles beschlagnahmt, was sich bewegt«, sagte Grayson. »Sie haben sogar die beiden Raupenfahrzeuge eingezogen, mit denen wir Schwergerät transportieren. Sie kamen einfach hierher, klatschten ein Beschlagnahmungsformular auf den Tisch und nahmen sie beide mit!«
»Das war noch nicht alles«, sagte Amber. »Sie haben die Raumstation von Farside nach Nearside geschafft. Jetzt läuft unsere Fernkommunikation nur noch über einen niedrig stehenden Satelliten. Die meiste Zeit über haben wir überhaupt keine Verbindung.«
Thorpe nickte. »Bevor ich losgeflogen bin, habe ich euch anzurufen versucht. Man sagte mir, die Verbindungen würden erst heute spät am Tag wiederhergestellt werden.« Nach einem kurzen Moment fragte er: »Wie wollt ihr also von hier wegkommen?«
»Wir haben ein Schiff gechartert. Es ist ein kleiner Frachter, der bis vor kurzem Ladung in den Orbit hochgeschafft hat, die den Transport über den Massebeschleuniger nicht überstanden hätte. Er soll zwei Wochen vor dem Kometen eintreffen. Der Frachter wird die Spiegel rausschaffen und uns auch. Ich hoffe nur, dass wir rechtzeitig fertig werden.«
»Wie viele seid ihr hier noch?«
»Vierzehn«, sagte Amber. »Niels, seine Frau, Crag und Cybil Barnard, Professor Dornier und mehrere Techniker und jüngere Angestellte. Alle andern sind schon weg. Oh, und noch was, Thomas, das hätte ich beinahe vergessen. Niels ist zum Direktor des Observatoriums ernannt worden!«
»Meinen Glückwunsch.«
»Wofür?«, fragte der Astronom. »Ich überwache den Abriss der Anlage.«
»Sie retten das beste Teleskop, das je gebaut wurde«, sagte Amber. »Wenn Sie es schaffen, werden Sie für die Astronomie mehr getan haben, als Meinz je geleistet hat.«
»Außerdem«, spann Thorpe den Faden fort, »wird sich die Position auf Ihrem Lebenslauf gut machen.«
Grayson schnaubte verächtlich. »Was hat ein Astronom in dieser Suppe verloren, die auf der Erde ›Luft‹ genannt wird? Selbst wenn wir die wichtigsten Teile des Großen Auges retten sollten – haben Sie eine Vorstellung davon, wie lange es dauern wird, bis wir es wieder zusammensetzen und in Betrieb nehmen können?«
»Es wird ein paar Jahre dauern, nehme ich an.«
»Jahrzehnte.«
»Ich habe den Eindruck, dass ihr hier ganz schön zu tun habt«, sagte Thorpe. »Habt ihr noch Verwendung für ein paar kräftige Hände.«
»Das haben wir.«
»Gibt es noch einen Platz für mich, wenn der Frachter auftaucht?«
»Wir werden Platz schaffen.«
Thorpe grinste und streckte seine Hand aus. »In diesem Fall haben Sie einen weiteren Tagelöhner angeheuert. Ich bin stark wie ein Stier und beinahe ebenso intelligent, und ich esse kaum etwas.«
»Was Letzteres betrifft, bin ich mir nicht ganz so sicher«, sagte Grayson mit einem Blick auf Thorpes leeren Teller.
Bevor die Spiegel des Großen Auges in Transportcontainer verpackt werden konnten, mussten sie gründlich gereinigt werden. Nach Jahren im Freien hatten sie eine dünne Staubpatina angesetzt. Die Spiegel wurden nicht sauberer gehalten, weil der durch den Staub verursachte Lichtverlust von wenigen Prozent nicht ins Gewicht fiel, verglichen mit der Möglichkeit, einen Spiegel beim Reinigen zu beschädigen. Da jedoch niemand sagen konnte, wie lange die Spiegel gelagert werden würden, musste man dieses Risiko auf sich nehmen, um die empfindliche Beschichtung zu schützen.
Die Astronomen hatten im Innern des Observatoriumskomplexes ein spezielles Reinigungsgerät aufgebaut. Sobald die Spiegel demontiert waren, wurden sie durch die Luftschleuse transportiert und zu dem Apparat inuntergebracht. Dort saugten Techniker in den für sterile Räume üblichen Haubenkitteln vorsichtig die Vorder-und Rückseite der Spiegel ab. Dann wiederholten sie den Vorgang mit einem elektrostatischen Gerät, um die Staubpartikel zu entfernen. Zuletzt sprühten sie einen Plastikfilm auf den ganzen Spiegel, an dem übriggebliebene Staubpartikel haften würden. Wenn der Film getrocknet war, wurde er abgezogen, und zurück blieb eine schmutzfreie, makellose Oberfläche. Zum Schluss verstauten sie den gesäuberten Spiegel in einem luftdichten Container, schraubten ihn fest und injizierten eine Heliumatmosphäre.
Es dauerte rund zwei Stunden, einen Spiegel zu reinigen und zu verpacken, und es konnten lediglich zwei gleichzeitig bearbeitet werden. Vor Thorpes Eintreffen hatte das Observatoriumspersonal es geschafft, zweihundert der fünf Meter durchmessenden Sechsecke zu bearbeiten. Mit seiner Hilfe und indem sie rund um die Uhr arbeiteten, schafften sie den Rest in nur neun Tagen. Einen weiteren Tag verbrachten sie damit, die Spiegel neben dem provisorischen Landeplatz des Frachters aufzustapeln.
Es war eine müde Gruppe von Belegschaftsmitgliedern, die sich am Abend, bevor der Frachter eintreffen sollte, in der Kantine zur Abschiedsparty versammelte. Aus gegebenem Anlass waren sie formell gekleidet, und es wurden sämtliche übriggebliebenen Delikatessen serviert. Einer der jungen Angestellten schaffte es, den Weinschrank von Direktor Meinz zu öffnen. Sie entdeckten darin mehrere Zweiquartflaschen Champagner von der Erde.
Der Abend begann mit einer Reihe von Trinksprüchen, dabei blitzte hier und da Galgenhumor auf. Nach dem Essen jedoch machten die Witze einem Gefühl von Kameradschaft Platz. Es war die Art Gefühl, das einen am Ende einer langen politischen Kampagne oder bei einer Doktorfeier überkommt. Jedermann war erfüllt von dem Gefühl, es geschafft und eine Aufgabe trotz aller Schwierigkeiten gut bewältigt zu haben.
»Wo steckt eigentlich Grayson?«, fragte Thorpe, der sich an seinem dritten Glas Champagner festhielt. Bei ihm saß Amber, eng an ihn gekuschelt. Ihre lange Trennung war ihnen beiden eine Lehre gewesen. Keiner hatte sich während der letzten zehn Tage weit vom anderen entfernt.
Professor Barnard hörte die Frage und lachte. »Sie kennen doch Niels. Er muss sich um alles kümmern, sonst glaubt er, dass er seinen Job zu leicht nimmt. Als ich ihn zuletzt sah, war er zum Kommunikationszentrum unterwegs. Der Satellit müsste um diese Zeit wieder über dem Horizont auftauchen. Er erkundigt sich nach der Ankunftszeit des Schiffes.«
»Wie lange, glauben Sie, wird es dauern, die Spiegel einzuladen?«
Barnard zuckte mit den Achseln. »Hängt davon ab, ob sie irgendwelche motorisierten Hilfsmittel haben. Wir haben unsere kleinen Handwägelchen, aber wenn wir sie von Hand in die Frachträume hieven müssen, werden wir die meiste Zeit des Tages dafür brauchen. Schade, dass die Sonne nicht scheint. Dann könnten wir wenigstens sehen, was wir tun.«