»Bist du dir sicher?«
»Ich habe die Zahlen ein Dutzend Mal durch den Computer laufen lassen. Das Evakuierungstempo verlangsamt sich immer weiter. Die Flugmannschaften überstrapazieren ihre Kräfte, und ihre Erschöpfung schlägt sich in den täglichen Zahlen nieder. Die Gesamtzahlen sind allein während der letzten zehn Tage um zehn Prozent gesunken.«
»Wie viele werden übrigbleiben?«
»Mindestens fünfzigtausend. Es könnten zwei-oder dreimal so viele werden, wenn man die Kontrolle über die Menge verliert.«
Smith nickte. Sobald die auf dem Boden befindlichen Menschen erkannten, dass sie den Mond mit großer Wahrscheinlichkeit nicht würden verlassen können, würde der Aufruhr beginnen. Mit dem Ausbruch ausgedehnter Unruhen würde die Evakuierung definitiv zu Ende sein. Wenn die Einschiffung nicht mehr ruhig vonstatten ginge, würde es keine Besatzung wagen, in Luna City zu landen, aus Angst, von einer Menschenmenge in Panik überrannt zu werden.
»Ich bin froh, dass Tom Thorpe und Amber Hastings rechtzeitig weggekommen sind.«
»Oh?«, machte Barbara. »Hast du von ihnen gehört?«
»Nein, aber es dürfte nicht mehr lange dauern. Ihr Sonderschiff müsste zu diesem Zeitpunkt das ganze Observatorium bereits vom Mond weghaben. Ein Wagen und ein Fahrer stehen schon bereit, sie abzuholen, sobald sie am Raumhafen eingetroffen sind.«
»Wir müssen das Tempo beschleunigen«, sagte Barbara und wandte sich damit wieder dem Thema Evakuierung zu. »Das heißt, wir müssen irgendwo neue Schiffe auftreiben.«
»Wenn wir nur könnten«, sagte ihr Mann. »Leider gibt es kein einziges Schiff mehr, das man einsetzen könnte. Wir brauchen alle andern für den Felsen oder das Meteoriten-Schutzsystem. Es klingt vielleicht herzlos, aber wir werden einfach so viele retten müssen, wie wir können. Schließlich haben wir zehn Millionen von ihnen gerettet.«
»Du hast natürlich Recht«, pflichtete Barbara ihm bei. »Es hätte viel schlimmer kommen können.«
Aus ihren Worten war herauszuhören, dass ihr Verstand vielleicht zustimmte, ihr Herz aber nicht.
39
»Guck dir mal all diese alten Kisten an!«
Der Schrottplatz erstreckte sich vor Thorpe und Amber über fast einen iertelkilometer. Von ihrem Blickwinkel aus waren Hunderte von Schiffen zu sehen, vom zweisitzigen MoonJumper bis zu großen Boden-Orbit-Frachtern. Trotz ihrer unterschiedlichen Größe ähnelten die Kähne einander alle. Ein jeder war ein Durcheinander von geometrischen Formen, die in dem kreuzförmigen Landegestell endeten, das für die zum Einsatz auf der atmosphärelosen Mondoberfläche bestimmten Raketenfahrzeuge typisch war. Anders als bei vergleichbaren Sammlungen auf der Erde funkelten die Schiffshüllen hell im Licht der späten Nachmittagssonne.
Wie Amber bereits im Hotel bemerkt hatte, erstreckte sich das System luftgefüllter Tunnel von Luna City nicht bis zu dem alten Schrottplatz. Um dorthin zu gelangen, waren sie gezwungen gewesen, sich durch eine Bodenschleuse hinauszubegeben und sich ihrem Ziel über Land zu nähern. Unterwegs waren sie dicht an einem Gebäudekomplex vorbeigekommen, der das äußerste Ende des Massebeschleunigers von Luna City darstellte.
Die riesige elektromagnetische Kanone stand nutzlos herum, von Dutzenden von Frachtbehältern umgeben, die ein unachtsames Kind fallengelassen zu haben schien. Bei Thorpes Ankunft auf Luna war der Massebeschleuniger überlastet gewesen. Da ein Mangel an orbitgängigen Schiffen bestand, hatte die Regierung alles, was der Startbelastung widerstehen konnte, in Container gesteckt und in den Raum hochgeschossen. Die Container waren in eine Umlaufbahn um die Sonne geschickt worden, wo sie bleiben würden, bis sie jemand einsammelte. Es würde Jahre dauern, alles wieder aufzulesen. Aber im Raum ging nichts verloren, und der Massebeschleuniger war die einzige Möglichkeit gewesen, einen Großteil von Lunas unbezahlbaren Schätzen zu retten.
»Vielleicht hätten wir die Spiegel des Großen Auges wenigstens in einen Parkorbit schießen sollen«, sagte Amber und sah zu dem Massebeschleuniger hoch, während sie an der verlassenen Anlage vorüberstapften.
»Würden sie die Beschleunigung überstehen, ohne zu zerbrechen?«
»Man müsste die Hohlräume natürlich mit Schaum füllen, aber ich glaube, sie würden es aushalten.«
»Merke es dir«, sagte Thorpe. »Wenn wir eine Möglichkeit finden, die Spiegel von Farside zu holen, könnten wir es versuchen.«
Sie waren weitermarschiert, bis sie ihr Ziel erreicht hatten.
»Sehen wir uns das große da drüben einmal an«, schlug Amber vor und deutete auf eine gewaltige plattfüßige Kugel mit vier Düsen an ihrem unteren Ende. Sie schien mehr oder minder intakt zu sein, und es waren auf den ersten Blick keine Löcher in der Hülle und es schienen auch keine wichtigen Teile zu fehlen.
Sie gingen zu dem großen Schiff hinüber und kletterten die an seiner Seite in die Höhe führende Leiter hoch. Eine Viertelstunde später kamen sie bitter enttäuscht wieder heraus. Der Frachter war älter, als er aussah. Sein Antrieb arbeitete nach dem Prinzip der Kernspaltung, und der Reaktor war längst ausgebaut und endgelagert worden. Aus dem Schiff hatte man alles ausgebaut, was von irgendeinem Wert gewesen war, und nur die leere Hülle zurückgelassen.
Aus der offenstehenden oberen Schleuse hatten sie einen Panoramablick über den Raumhafen und die Dutzende von Fähren gehabt, die Passagiere aufnahmen. Wenn man weit genug im Schiff und im Schatten stand, konnte man den milchig weißen Lichtflecken am Himmel sehen, den sich nähernden Kometen. Während sie beieinanderstanden und zum Himmel hochsahen, verwandte Thorpe ein paar Minuten darauf, nach dem Stern zu suchen, der der Felsen war. Er wusste, dass er zu klein war, als dass man ihn mit bloßem Auge hätte sehen können, aber das hielt ihn nicht davon ab, danach zu suchen.
Sie versuchten es noch einmal. Das nächste Schiff war weniger gründlich ausgeschlachtet worden als das erste, aber es war ebenfalls nicht mehr reparabel. Während der ächsten sechs Stunden durchsuchten sie insgesamt drei ßig Schiffe, wobei sie jedes Mal hofften, dass das nächste dasjenige wäre, das sie brauchten. Sie zogen sogar in Erwägung, mehrere Schiffe auszuschlachten, um eines wieder instand zu setzen. Nach sechs enttäuschenden Stunden brach Thorpe die Suche ab.
»Machen wir uns auf den Rückweg«, sagte er über Helmfunk. »Vielleicht hatte Niels heute mehr Glück.«
»Wie ist es gelaufen?«, fragte Thorpe Niels Grayson, sobald er und Amber sich wieder in ihrem Hotel in Luna City befanden.
»Nicht gut«, antwortete Grayson. »Wir sind gleich zu dem höchsten Beamten gegangen, der sich noch auf Luna befindet. Falls es Sie interessiert, es ist Ihr alter Freund John Malvan! Er hat höflich zugehört und unsere Bitte dann abgelehnt. Es stehen einfach nicht genügend Schiffe zur Verfügung. Wie war’s bei Ihnen und Amber?«
Thorpe berichtete ihm, was sie auf dem Schrottplatz vorgefunden hatten. Grayson hörte ruhig zu, dann nickte er. »Das hatte ich befürchtet. Vor einem halben Jahr hörte ich etwas davon, dass die Republik eine Menge alter Schiffe ausschlachten wolle. Offenbar haben sie reinen Tisch gemacht.«
»Was fangen wir jetzt an?«, fragte Amber.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete Grayson.
»Es gibt noch eine andere Möglichkeit«, sagte Thorpe. »Ich kann Halver Smith auf der Erde anrufen und mich erkundigen, ob SierraCorp ein Schiff erübrigen kann.«
»Eine ausgezeichnete Idee, Thomas.«
»Vielleicht nicht ganz so ausgezeichnet.«
»Warum denn das?«
»Weil Mr. Smith es sich nicht erlauben kann, philanthropisch zu sein. Es hat nach dem Verlust des Felsen einen Einbruch am Aktienmarkt gegeben. Schiffe kosten Geld, und er wird irgendeine Art von Bezahlung verlangen, um seine Kosten zu bestreiten.«