Und er allein kannte die Daten ihrer Flugbahnen!
Dann war es nur noch darum gegangen, darauf zu warten, dass er bei der Evakuierung an die Reihe kam. Ursprünglich hatte er eine Woche vor dem Eintreffen des Kometen abfliegen sollen, war jedoch benachrichtigt worden, dass es eine Verzögerung von zwei Tagen geben würde. Aus zwei Tagen waren vier geworden. Dann folgte das mehr als einen Tag dauernde nervenaufreibende Schlangestehen, während er darauf wartete, an Bord gehen zu können.
Er hatte die usschiffungsschleuse bereits in Sichtweite gehabt, als eine Gruppe bewaffneter Männer versucht hatte, die Polizeiabsperrung zu durchbrechen. So wie tausend andere hatte sich Barnes zitternd auf den Boden gekauert, während ihm die Kugeln um die Ohren flogen. Er hatte erwartet, die Sicherheitskräfte würden kurzen Prozess mit den Angreifern machen, aber das taten sie nicht. Als das Licht ausgefallen war, hatten die Angreifer die zweite Sicherheitsbarriere gestürmt, bloß um zu entdecken, dass die Verteidiger geflohen waren. Ihr Triumphgeheul hatte sich in ein Geschrei der Enttäuschung verwandelt, als eine Boden-Orbit-Fähre nach der anderen abhob. Und Harold Barnes hatte fünfzig Meter vor seinem Ziel erkennen müssen, dass man ihn aufgegeben hatte.
Barnes war zur Durchgangshalle zurückgegangen. Dort gab es wenigstens Fenster, durch die die Sonne schien. Er war nicht der Einzige. Mehr als tausend Menschen, die in Panik ziellos durcheinanderdrängten, füllten die Kuppel von Wand zu Wand. Barnes fand einen freien Flecken nahe einem der Beobachtungsfenster und ließ sich hineinfallen. Allmählich dämmerte ihm, dass seine sechs Container, so wertvoll sie auch sein mochten, weniger wert waren als sein Leben.
»He, Bürger! Wie wär’s, wenn Sie Ihre Beine einziehen würden, damit sich noch jemand setzen kann?«
Barnes blickte teilnahmslos zu dem jungen Punk auf, der über ihm stand. Sie schienen zahlreicher denn je zu sein. Noch vor wenigen Monaten hätte kein solcher Abschaum ihn anzusprechen gewagt, zumindest nicht auf so unverschämte Art und Weise. Jetzt stolzierten sie herum, als gehörte ihnen der Mond! Barnes dachte daran, sich zu beschweren, sagte sich aber, dass es sinnlos war. Um sie herum saßen Hunderte von Menschen, umklammerten ihre Knie und schaukelten in stummer Verzweiflung hin und her. Einige Leute weinten, andere fluchten, die meisten aber saßen schweigend da. Es war Stunden her, dass sie jede Hoffnung auf Rettung verloren hatten, und jetzt gab es nichts anderes mehr zu tun, als auf das Ende zu warten.
»He!«, schrie jemand. »Was ist denn das?« Barnes blickte zu dem Panoramafenster hoch. Im ersten Moment sah er nichts. Dann entdeckte er einen Zylinder, der sich an den Türmen des Massebeschleunigers entlangbewegte. Er drehte den Kopf, um durch das linke Fenster hindurchzusehen. Er konnte gerade noch den Zylinder die Lücke zwischen zwei Türmen überspringen und in der Ferne verschwinden sehen. Er hatte bis zuletzt beschleunigt. Dessen war Barnes sich ganz sicher!
Plötzlich erhob sich lautes Geschrei in der Beobachtungskuppel, als die, die den Zylinder gesehen hatten, ihren Nachbarn davon erzählten. Das Geschrei schwoll rasch an, als tausend Menschen gleichzeitig denselben Einfall hatten. Wie so viele andere war Barnes aufgesprungen und schrie aus voller Lunge. Ob es ein Schrei der Wut oder der Erleichterung war, hätte er nicht sagen können. Er fletschte die Zähne, nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Wolf.
»Weg sind sie!«, sagte Amber, während sie den kleiner werdenden Container auf dem Monitor im Kontrollraum des Massebeschleunigers beobachtete. Die Instrumente zeigten einen nahezu perfekten Start an. Als der Container zwischen den letzten Starttürmen hervorgekommen war, hatte seine Geschwindigkeit 3,2 Kilometer pro Sekunde betragen, was die Fluchtgeschwindigkeit ausreichend überstieg. Auf seiner Flugbahn würde er die Erde umfliegen, bevor er sich wieder dem Mond nähern würde. Der Container würde seine Flugbahn niemals vollenden. Wenn sie hinter der Erde vorbeikamen, würden die Insassen des Containers ihren beschränken Treibstoffvorrat zum Abbremsen einsetzen und in einen stark elliptischen Orbit um die Erde gehen. Anschließend würden sie auf ihre Rettung warten – oder darauf, dass ihr Sauerstoffvorrat zu Ende ging.
»Wie viel Strom haben wir verbraucht?«, fragte Thorpe neben ihr.
»Fünfundachtzig Prozent der Gesamtladung«, gab sie bekannt. »Das bedeutet, dass wir in fünf Stunden wieder volle Ladung haben.«
»Mach, so schnell du kannst. Ich gehe wieder runter, um unsere Schutzmaßnahmen zu überprüfen.«
Bis jetzt hatten sie sich darauf verlassen, dass niemand wusste, was im Innern des Massebeschleunigers vor sich ging. Thorpe war sicher, dass sich dies mit ihrem ersten Start geändert hatte. Hunderte mussten beobachtet haben, wie der Container an dem Startkomplex entlang beschleunigte. Bald würden Tausende davon wissen. Und Menschen, deren letzte Hoffnung auf ein Entkommen soeben zunichte geworden war, musste der Hinweis, dass es doch noch eine Möglichkeit gab, von Luna wegzukommen, wie eine göttliche Offenbarung erscheinen. Thorpe zweifelte nicht daran, dass sie schon bald Besuch bekommen würden. Die Frage war nur, von wem?
Der Zugang, dessen Verteidigung ihnen zunächst am schwierigsten erschienen war, hatte sich als der am leichtesten zu verteidigende herausgestellt. Der Hauptkorridor nach Luna City war eine der Hauptverkehrsadern der Stadt. So breit wie eine zweispurige Straße auf der Erde, war der Korridor die wichtigste Route, über die ständig Eisblöcke, Rohstoffe und andere Großgüter zum Massebeschleuniger transportiert wurden.
Die Korridore auf Luna wurden alle paar Hundert Meter von druckfesten Toren unterbrochen, die im Falle eines Druckverlustes den Schaden begrenzen sollten. Wie bereits im Hotel, hatten die Observatoriumstechniker zwei aufeinanderfolgende Schleusentore veranlasst, sich irrtümlich zu schließen. Von dem Abschnitt aus, den sie abgeriegelt hatten, führte eine Korridorabzweigung zu einer Oberflächenschleuse. Nachdem sie die Tore verschlossen und in ihren Rahmen verschweißt hatten, klemmte ein Techniker die Sicherheitsvorrichtungen ab, welche die Schleusentore davon abhielten, gleichzeitig geöffnet zu werden. Dann öffnete er die innere Tür, klemmte sie mit Eisenrohr fest und betätigte den Schalter, der die Außentür öffnete. Der folgende Orkan von ausströmender Luft zerfetzte die Außentür und riss den Techniker beinahe mit sich hinaus.
Normalerweise hätte die plötzliche Dekompression eines ganzen Abschnitts des Hauptkorridors in der ganzen Stadt die Alarmglocken klingeln lassen. Vielleicht tat sie das auch noch, doch es gab niemanden, der darauf hätte reagieren können. Die doppelte Vakuumbarriere würde alle Eindringlinge aufhalten. Doch ob sie sie lange genug aufhalten würde, um die Astronomen entkommen zu lassen, war eine Frage, die niemand beantworten konnte.
Bevor die äußeren Drucktore verschlossen waren, hatte Thorpe die Korridorkameras wieder anschließen lassen, um die der Stadt zugewandte Seite der Barriere zu überwachen. Fünfzehn Minuten nach dem Start des ersten Containers informierte ihn Amber über Handfunk darüber, dass sich auf der Außenseite Menschen drängten.
»Was tun sie?«, fragte er.
»Nichts. Sie wirken verwirrt.«
»Gut, hoffen wir, dass es so bleibt!«
Während er seine Inspektionsrunde fortsetzte, versuchte er, nicht daran zu denken, was sich auf der anderen Seite der Barriere abspielte. Wenn er gesehen hätte, wie die Massen verzweifelter Menschen mit den Fäusten auf die Barriere einschlugen, hätte er sich nur allzu leicht die Frage gestellt, welches Recht er hatte, ihnen ihre einzige Fluchtmöglichkeit zu verweigern. Was er tat, war notwendig, aber Thorpe mochte sich dafür nicht.
Den nächsten Halt auf seinem Rundgang legte er in einem Wartungskorridor ein, genau unter dem hinteren Ende des Massebeschleunigers. Dort hatten sie ebenfalls die Schleuse manipuliert – sie hatten die offene Innentür festgeschweißt, nachdem sie außen eine Kamera montiert hatten, um auch diesen Anmarschweg zu überwachen. Mit der offenstehenden Innentür konnte die Außentür, einer Kraft von mehreren Tausend Kilogramm ausgesetzt, nicht aufgedrückt werden. Einer der Techniker beobachtete den Monitor, der ihm ein Bild von der Oberfläche lieferte. Er trug seinen Raumanzug, und der Helm hing an einem Tragriemen vor seiner Brust.