Lunas normalerweise scharfe Konturen begannen plötzlich zu verschwimmen, als betrachtete er sie durch ein Stück Gaze. Thorpe blinzelte, da er glaubte, seine eigenen Tränen trübten ihm die Sicht. Es dauerte eine Weile, ehe er begriff, dass der Effekt nichts mit seinen Augen zu tun hatte. Er war äußerst real und vollkommen von außen bedingt.
»Was ist da los?«, schrie er in sein Funkgerät. Bis jetzt hatte niemand ein Wort gesagt. Alle hatten sie der Katastrophe zugesehen, eingesponnen in den Kokon ihrer eigenen Gedanken.
»Das ist der Wasserdampf von Donnerschlag«, antwortete Amber mit ebenso erregter Stimme wie er. »Der Mond wird von einer riesigen Wolke Wasserdampf verschluckt. Es müsste dort jeden Moment anfangen zu regnen!«
Wie um ihre Worte zu untermauern, wurde der Container wie von einem Höhenwind durchgeschüttelt. Die Sichtluke wurde plötzlich trüb, als sie sich mit einer dünnen Eisschicht überzog. Einen Augenblick später entstand im Innern ein polterndes Geräusch, als die Hülle ihres Raumfahrzeugs von unsichtbaren Partikeln getroffen wurde. Mehrere winzige Dellen erschienen in der transparenten Oberfläche der Sichtluke.
Amber deutete in den Nebel vor der Luke hinaus. »Eis! Wir sind von der Trümmerwolke eingeholt worden! Es dauert nicht mehr lange bis zur nächsten Phase.«
»Nächste Phase?«, fragte Jamie Byrant alarmiert und wandte sich von dem Fenster ab, um Amber anzusehen. Thorpe tat das Gleiche. Zum ersten Mal bemerkte er, dass sie hinter ihrem Visier sehr bleich war. Das Schauspiel der Zerstörung Lunas hatte sie erregt. Noch vor wenigen Sekunden war das offensichtlich gewesen. Doch die Erregung hatte sich in Furcht verwandelt.
»Was ist denn los?«
»Wir wurden soeben von der äußersten Trümmerschicht überholt«, erläuterte sie. »Größtenteils besteht sie aus mikroskopisch kleinen Eispartikeln, deshalb gibt es nichts zu befürchten. Aber schon bald werden wir uns mitten unter den größeren Brocken befinden. Dieser kleine Schneesturm wird sich in einen Blizzard von Felsbrocken verwandeln. Wenn wir den überleben, dürften wir das hier heil überstehen.«
Thorpe runzelte die Stirn. »Wann werden wir das wissen?«
»In acht Stunden.«
»Wenn wir also in acht Stunden noch leben, können wir damit rechnen, dass es auch dabei bleibt?«
»Richtig.«
»Dann warten wir am besten ab und vertrauen auf unser Glück«, sagte Thorpe. Er ergriff ihre Hand. »Hast du Angst?«
»Das kannst du wohl annehmen!«
»Ich auch. Doch was immer geschehen wird, wir bieten ihm gemeinsam die Stirn.«
44
Thorpe betrachtete Luna und schüttelte den Kopf, verwundert darüber, welchen Unterschied nur hundert Stunden ausmachen konnten. Der Mond war nicht mehr der graubraune Himmelskörper, der den Erdhimmel seit Urzeiten geschmückt hatte. Der Mann im Mond war verschwunden, und sein unveränderlicher Blick würde nie mehr gesehen werden. Die vertrauten Orientierungspunkte existierten nicht mehr. Die berühmten Krater waren mit Magma gefüllt und von Nebel umhüllt. Denn Donnerschlag hatte Luna weniger zerstört als vielmehr umgewandelt. Die Veränderungen hatten nur wenige Stunden nach dem Einschlag des Kometenkerns begonnen. An Bord des provisorischen Rettungsbootes hatte jedoch niemand gesehen, wie die Veränderungen einsetzten. Sie waren zu sehr damit beschäftigt gewesen, Ambers Trümmer-Blizzard zu überstehen.
Der Lärm, der auf die Wände ihrer Rettungskapsel auftreffenden Partikel, ein Geräusch, das Thorpe an Hagelkörner erinnerte, die auf ein Metalldach fielen, hatte das Eintreffen der Trümmerwolke angekündigt. Die mikroskopisch kleinen Trümmerstücke waren während vier langer Stunden von ihrer Hülle abgeprallt. Manchmal wurde das Geräusch zu einem maschinengewehrähnlichen Stakkato, dann wieder ließ es bis auf wenige Töne pro Minute nach. Die beiden Luna zugewandten Sichtluken waren beinahe augenblicklich bis zur Nutzlosigkeit erblindet; ihre Oberflächen waren dermaßen zerschrammt, dass es unmöglich war, hinauszusehen.
Der Sturm bestand jedoch nicht nur aus Mikrometeoriten. Drei Stunden nach dem ersten Trommelgeräusch wurden die Flüchtlinge von einem Krachen überrascht, das ihre Zähne im Innern ihrer Anzüge aufeinanderschlagen ließ. Als Thorpe erschreckt aufsah, entdeckte er nicht einmal einen Meter vor seiner Nase ein zentimetergroßes Loch. In der gegenüberliegenden Wand zeigte ein beinahe gleichaussehendes Loch an, wo etwas das Schiff verlassen hatte. Durch beide Löcher hindurch konnte man die Schwärze des Weltraums sehen, und ein heftiger Windstrom blies in ihre Richtung. Thorpe hatte das Eintrittsloch mit zitternden Händen geflickt, während Jamie Byrant sich um das Loch kümmerte, wo der Meteorit ausgetreten war. Anschließend hatten sich alle auf die eschleunigungsnetze gelegt, um den Sturm auszureiten. Bei jedem neuen Geräusch sehnte Thorpe sich unwillkürlich einen tiefen Fuchsbau herbei, in den er hätte hineinkriechen können.
Schließlich ließ das Trommelgeräusch nach, und Amber gab bekannt, dass sie das Schlimmste hinter sich hätten. Es dauerte jedoch noch weitere drei Stunden, bis die langsame Rotation des Containers die beiden unbeschädigten Sichtluken auf den Mond hin ausgerichtet hatte. Ihr erster Blick auf den Mond seit mehr als zwölf Stunden machte ihnen vollends das Ausmaß dessen klar, was geschehen war.
»Was, zum Teufel, ist denn das?«, fragte Thorpe, als er auf die von schneeweißen Wolken umhüllte Welt hinunterblickte, die sich an der Stelle befand, wo früher Luna gewesen war.
Die Wolken ähnelten einer Kometenkoma, waren jedoch dichter. Luna hatte sich in eine Miniaturvenus verwandelt und war dabei merklich gewachsen. Thorpe schätzte, dass die Wolkenschicht mehr als tausend Kilometer dick war. Das war die zehnfache Dicke der Erdatmosphäre.
»Mein Gott!«, rief Amber aus. »Ich hatte keine Ahnung, dass es so viel Dampf geben würde.«
»Du meinst, das ist Wasserdampf?«
»Was denn sonst? Donnerschlag hatte eine Masse von sechzig Billiarden Tonnen, und das meiste davon war Eis. Dieses Eis ist beim Aufschlag verdampft.«
»Vollständig verdampft?«
»Jedes einzelne Gramm. Der meiste Dampf muss ins Innere abgeleitet worden sein, sonst würden wir eine viel dichtere Atmosphäre sehen.«
»Könnte es flüssiges Wasser unter der Wolkendecke geben?«, fragte Margaret Grayson.
Amber schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Der Mond ist noch zu heiß. Geben Sie ihm ein paar Monate. Dann fängt der Regen erst richtig an. Wenn er erst einmal angefangen hat, wird es Jahrzehnte weiterregnen.«
Thorpe runzelte die Stirn. »Willst du damit sagen, dass auf Luna wahrscheinlich Meere entstehen werden?«
»Ziemlich große sogar, würde ich sagen. Donnerschlag enthielt ein Zwanzigstel des Wassers sämtlicher Erdozeane. Er hat seine Last auf einer Welt mit nur einem Dreizehntel der Erdoberfläche abgeworfen.«
Daran, dass Luna aus alledem mit einem Meer hervorgehen würde, hatte Thorpe noch nicht gedacht. Es war eine allzu exotische Vorstellung.
Sie hatten sich drei Tage lang mit diesem Gedanken beschäftigt. Sie hatten geruht, gegessen, sich unterhalten, Luna beobachtet und sich dabei abgewechselt, um Hilfe zu funken. Sie waren schon lange ›über den Berg‹ und fielen nun auf die Erde zu. Trotz der abnehmenden Entfernung schien der blauweiße Planet kein Ohr für ihr Rufen zu haben.
»Die Antenne muss abgebrochen sein«, sagte Thorpe zu Byrant, nachdem er das Funkgerät zum zwölften Mal untersucht hatte. Ein Rückkopplungstest ergab, dass der Sender ein Signal abgab. Entweder wurde es auf der Erde ignoriert, oder das Signal wurde nicht in den Raum ausgestrahlt.