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Der Große Verteiler war eine spiralförmige Galerie, die in die Seitenwand der künstlichen Höhle geschnitten war, die das Stadtzentrum beherrschte. Die zylindrische Höhlung maß mehr als hundert Meter im Durchmesser und erstreckte sich fünfhundert Meter vom Boden bis zur Decke. Die Höhle diente der Stadt als Luftreservoir und als sozialer Mittelpunkt. Am Scheitelpunkt des Kegels war eine künstliche Sonne aufgehängt, während sich einen halben Kilometer darunter das Grün eines Parks erstreckte. Entlang dem langen Spazierweg befanden sich die Theater, Restaurants, Hotels, Spezialitätenläden, Bars und Straßencafés. Der Große Verteiler hob sich mit jeder Windung zwanzig Meter und beschrieb zwischen den Hauptebenen jeweils fünf Windungen.

Es war genau neunzehn Uhr, als Tom Thorpe aus der Lobby seines Hotels in den Verteiler trat. Die künstliche Sonne war zu einem blassen Blau heruntergeschaltet worden, um eine irdische Dämmerung zu simulieren. In einer Stunde würde sie das tiefere Blau der Nacht annehmen. Verschiedenfarbige Lampen waren an den Seiten der spiralförmigen Rampe angeschaltet worden, welche die dünnen Wolken, die durch den Hohlraum schwebten, im Zwielicht fluoreszieren ließen. Ein zweifacher Strom von Lunariern bewegte sich treppauf und treppab, während junge Paare und Familien an den Schaufenstern der Geschäfte entlangschlenderten.

Thorpes Hotel lag auf der Mitte zwischen Ebene Vier und Fünf auf der Westseite der zentralen Höhle. John Mahew Hobarts Wohnung befand sich auf Ebene Drei, hundertfünfzig Meter weiter oben, im nordöstlichen Quadranten des vierten konzentrischen Rings. Thorpe hatte mit dem Gedanken gespielt, über den Verteiler zu Ebene Drei hinaufzugehen, hatte den Plan jedoch fallengelassen, als er nach kurzem Überlegen feststellte, dass der Weg über die Spirale länger als zwei Kilometer war. Sein verletztes Bein hatte wie immer gegen Abend zu schmerzen begonnen, und selbst bei der niedrigen lunaren Schwerkraft bezweifelte Thorpe, ob er sich den Aufstieg zutrauen konnte.

Stattdessen machte er einen öffentlichen Airlift ausfindig und ließ sich in den vertikalen Schacht hineinfallen. Die aufsteigende Luft zerrte an seinen Kleidern. Hätte er sich auf der Erde befunden, wäre er auf die Schaufelräder zweihundert Meter unter ihm hinabgestürzt. Mit einem Sechstel des normalen Körpergewichts jedoch wurde er von der hochbeschleunigten Luft in die Höhe getragen. Er schwankte von einer Seite zur anderen bei dem Versuch, die richtige Haltung zu finden – mit gespreizten Beinen, gekrümmtem Rücken, den Bauch so weit wie möglich herausgedrückt. Die leuchtenden Nummern der Ebenen zogen an ihm vorbei. Als er Ebene Drei erreicht hatte, griff er nach dem polierten Geländer, das an der Schachtwandung entlanglief, und verfehlte es fast. Sobald er es einmal gepackt hatte, schwang er sich aus dem Luftstrom heraus und landete sanft auf dem Treppenabsatz der dritten Ebene. Anschließend durchquerte er einen kurzen Korridor und betrat wieder den Verteiler. Auch als er die Liftanlage bereits hinter sich gelassen hatte, klangen ihm von dem Lärm immer noch die Ohren.

Beim Studieren des Stadtplans erkannte Thorpe, dass er sich immer noch auf der falschen Seite der zentralen Höhlung befand. Er entdeckte eine der Fußgängerbrücken, welche die Stadtplaner über den Abgrund gespannt hatten. Die Brücke schien nicht stabil genug, das Gewicht eines Mannes zu tragen, ganz zu schweigen von dem Menschenstrom, der sich stetig darüber ergoss. Trotz all der Jahre, die er auf dem Felsen verbracht hatte, fühlte sich Thorpe beklommen, als er die gemächlich schwingende Brücke betrat. Er überquerte sie, ohne nach unten zu blicken.

Zehn Meter oberhalb der Brücke entdeckte er einen breiten Korridor mit einem Schild, auf dem in leuchtend weißen Buchstaben NORDOSTRADIUS stand. Er trat auf einen der beiden Gleitwege und ließ sich davontragen. Der vierte Ring der Peripherie lag einen Kilometer vom Gro- ßen Verteiler entfernt. Er erreichte ihn in zehn Minuten. Dort angelangt, hielt er eine Passantin an und fragte sie nach der Wohnung von John Mahew Hobart. Fünf Minuten später befand sich Thorpe in einem kurzen Seitenkorridor, dessen Ausstattung diese Gegend als eine der wohlhabenderen der Stadt auswies.

»Ah, Mr. Thorpe, es freut mich, dass Sie kommen konnten!«, rief Hobart, als er den Repräsentanten der Sierra Corporation an der Tür begrüßte.

»Ich komme ein wenig früh«, erwiderte Thorpe. »Ich bin extra früh aufgebrochen, für den Fall, dass ich mich verlaufen sollte.«

»Machen Sie sich nichts draus. Schön, dass Sie da sind. Es gibt hier Geschichten von Touristen, die tagelang verschollen waren. Treten Sie ein und lassen Sie sich mit meiner Frau und den anderen Gästen bekanntmachen.«

Hobarts Wohnung war so geformt, dass sie einer natürlichen Höhle auf der Erde ähnelte. Hauptsächlich bestand sie aus freiem Raum, mit Sitzgruppen über mehrere natürlich wirkende Nischen verteilt, die durch künstliche Stalaktiten und Stalagmiten voneinander abgeteilt wurden. Ebenso waren die Durchgänge zu den anderen Räumen als natürliche Öffnungen getarnt. Ein weiches, indirektes Licht, das aus den gewölbten Wänden kam, erhellte den Raum. Hobart führte Thorpe an einem kleinen Teich voller Lilien und Goldfische vorbei zu einer Gruppe von Leuten, die sich um die gutsortierte Bar drängten.

»Thomas Thorpe, ich möchte Sie mit meiner Frau Nadia bekanntmachen. Nadia, das ist Mr. Thorpe, Einsatzleiter auf dem Felsen

»Hallo, Mr. Thorpe«, sagte Mrs. Hobart und streckte ihre Hand aus. Sie war eine hübsche Frau in den späten Vierzigern. Ihr schwarzes Haar war graugesträhnt, aber sonst hätte sie durchaus als zehn Jahre jünger durchgehen können. Ihr Abendkleid zeigte mehr Haut, als es verbarg, war nach Mondmaßstäben jedoch konventionell. »Ich freue mich, dass Sie kommen konnten.«

»Ich möchte Ihnen für die Einladung danken«, erwiderte Thorpe.

Hobart besorgte ihm einen Drink und stellte ihn den anderen Gästen vor. Ihm wurde bald klar, dass es sich hier um eine Zusammenkunft der Nationalpartei von Luna und ihrer Anhänger handelte. Gerade als die Vorstellung beendet war, erklang eine leise Glocke, und Hobart entschuldigte sich, um die Tür zu öffnen.

»Sie waren also am Einfangen des Felsens beteiligt?«, fragte einer von Hobarts Gästen. Thorpe wandte sich dem Mann zu, der ihm als Harold Barnes, Vorstandsmitglied der Bank von Luna vorgestellt worden war.

Thorpe nickte. »Vom ersten Erkundungsflug an bis vor sechs Wochen, als ich bei einem Unfall verletzt wurde.«

»Ja«, sagte die Frau des Bankiers, »John hat uns erzählt, was passiert ist. Es muss schrecklich für Sie gewesen sein!«

»Als es passierte, nicht. Ich erinnere mich noch, dass ich mir wegen des Produktionsausfalls Sorgen machte.«

»Wie tapfer!«, säuselte die Dame.

Thorpe lachte. »Seitdem hatte ich aber mehr als einmal den Tatterich, das können Sie mir glauben.«

»Und wie viel hat es Sie denn nun gekostet, den Felsen zu bewegen?«, fragte Barnes.

»Eine Menge!«, antwortete Thorpe. »Nach der genauen Summe müssten Sie allerdings Halver Smith fragen.«

»Ich bezweifle, dass er sie mir nennen würde.«

»Das bezweifle ich auch«, stimmte Thorpe zu.

Die Antwort ließ Barnes unbeeindruckt. »Meine Bank hat sich mit der Kostenseite des Asteroidenfangs befasst. Man schätzt die Kosten als zehnmal so hoch ein wie bei einem ähnlichen Projekt auf Luna. Warum ist das so?«

»Aus einer Reihe von Gründen«, antwortete Thorpe. »Die Masse des Felsen beträgt etwa dreihundert Milliarden Tonnen. Ein Antriebssystem, das einen solchen Brocken bewegt, kommt nicht gerade billig. Es hat vier Jahre gedauert, wie Sie wissen. Dazu kommen Finanzierungskosten, Versicherung, Gehälter. Schließlich noch die Brennstoffkosten. Wir haben fast zehn Kilogramm Antimaterie gebraucht, um den Felsen in die Erdumlaufbahn zu befördern.«