Kapitän Olafson ließ ihren Passagieren und der Crew eine Stunde Zeit, um sich zu erholen. Nach Ablauf dieser Frist hatte so gut wie jeder an Bord feuchtes Haar, trug einen frischen Overall und roch nach Seife und Creme. Auf ihrer Liege im Kontrollraum festgeschnallt, beobachtete Karin Olafson den Wasserverbrauch. Die Rückkehr zu normalen Werten war ihr Signal, die erste Beschleunigungswarnung durchzugeben. Eine Viertelstunde später wurde Callisto unter der Admiral Farragut zum letzten Mal kleiner. Der Frachter war auf dem Weg zu seinem eigentlichen Ziel, gleich hinter der Umlaufbahn des Ganymed.
»Sprechprobe, Uhrenvergleich«, sagte Amber in ihr Helmmikrofon.
Nach sieben Sekunden erreichte sie Radha Rajapurs Stimme: »Die Verständigung ist gut. Wenn ich ›jetzt‹ sage, ist es 21:16:00 Uhr. Jetzt!«
Amber blickte auf das Chronometer, addierte die dreieinhalb Sekunden Zeitverzögerung hinzu und nickte. Ein Zeitvergleich über Sprechfunk war kein Ersatz für die unaufhörlich zwischen dem Schiff und der Station hin-und hergehenden Funksignale. Aber es diente doch immerhin als Bekräftigung dafür, dass die Computer die Synchronisation auch wirklich durchgeführt hatten.
Sie bestätigte Rajapurs Durchsage, dann wandte sie sich Cragston Barnard an ihrer Seite zu. »Die Sprechverbindung ist hergestellt, Dr. Barnard.«
»Und die Datenleitung?«
Amber tippte eine Reihe von Kommandos in ihr Computerterminal und beobachtete die Reaktion auf dem Monitor. »Alle Datenverbindungen arbeiten normal«, sagte sie nach wenigen Sekunden.
»Aufzeichnungskuben?«
»Eingeschaltet. Wir arbeiten mit dreifacher Redundanz.«
»Positionsprogramm?«
»Ist geladen und kann gestartet werden.«
»Sehr schön. Lassen Sie uns ein paar manuelle Beobachtungen durchführen, bis das automatische Programm startet. Rufen Sie den Kapitän und lassen Sie sie die Kontrolle an uns übergeben.«
Amber rief den Kontrollraum und gab Barnards Bitte weiter. Nach ein paar Sekunden machte der Kapitän eine Durchsage, dass das Schiff rasche Positionswechsel vollführen würde und dass sich Passagiere und Crew mit Vorsicht bewegen sollten. Als dies getan war, teilte sie Amber mit, es stünde ihr frei, das Schiff in Rotation zu versetzen.
Zwei kurze Stöße der Manövrierdüsen richteten das Teleskop auf den Kometen aus. Ein weiterer Befehl brachte das Gesichtsfeld des Teleskops auf ein Maximum. Die geisterhafte Koma des Kometen füllte den Schirm. Während der vergangenen zwei Wochen war der milchig weiße Ball kontinuierlich heller geworden. Der Komet hielt sich schon eine ganze Weile im Jupitersystem auf und hatte die innenliegenden Umlaufbahnen von Himalia und Leda überquert, als die Admiral Farragut in den nachschleppenden Strahlungsgürtel eingedrungen war. Jetzt war er weniger als fünf Millionen Kilometer von dem riesigen Planeten entfernt, und seine sichtbare Koma war auf nahezu eine Viertelmillion Kilometer angewachsen.
»Lassen Sie uns eine Messreihe über alle Wellenlängen aufnehmen. Es sieht so aus, als ob es entlang der Vorderseite eine Störung geben würde.«
Amber gab ein, dass das ganze Spektrum des Kometen aufgezeichnet werden sollte, dann blickte sie auf den Bildschirm. Tatsächlich begann der einheitliche Gasball an den Rändern Fortsätze zu bilden. Im Vergleich zum interplanetarischen Raum war das Jupitersystem voller Atome, Moleküle, Gas-und Staubteilchen. Die Zahl der gemessenen Mikrometeoriten lag um mehrere Größenordnungen über der im freien Raum.
Je tiefer die Kometenkoma in das System eindrang, desto häufiger fanden Zusammenstöße mit Treibgut statt. Die Folge davon war eine deutliche Abflachung ihres vorderen Randes. Was eine nahezu vollkommene Kugel gewesen war, verwandelte sich rasch in eine abgestumpfte Träne. Eine dünne Druckwelle angeregter Partikel nahm 100.000 Kilometer vor dem Kometen Gestalt an. Das Verhalten dieser Druckwelle würde den beobachtenden Wissenschaftlern ebenso viel über den jupiternahen Raum verraten wie über die Struktur des entstehenden Kometen.
Als die multispektralen Aufnahmen fertiggestellt waren, ordnete Barnard an, den ersten genaueren Blick auf den Kern zu werfen. Obwohl der Komet immer noch eine Reihe von Flugstunden entfernt war, war die Zeit gekommen, sich um die Einzelheiten seiner Oberfläche zu kümmern. Wenn der Komet erst einmal hinter dem Jupiter dahinflog, würde er sich zwischen dem Schiff und der Sonne befinden. Den Astronomen an Bord der Admiral Farragut würde der Kern als winzige Sichel erscheinen, als winziger Lichtsplitter mit einer zu kleinen beleuchteten Oberfläche, um Einzelheiten darauf auszumachen.
Als Barnard die Vergrößerung des Teleskops heraufsetzte, schwoll der Lichtball an, bis seine Ränder über den Bildschirm hinausflossen. Mit der Erhöhung der Vergrößerung ging eine Verminderung der aufgefangenen Lichtmenge einher. Die automatische Kontrastregelung kompensierte einen Teil des Verlustes, konnte ein leichtes Dunklerwerden des Bildschirms jedoch nicht verhindern.
Nach dreißig Sekunden hatten sie die maximale Vergrö ßerung erreicht. In der Mitte des Bildschirms befand sich eine winzige Scheibe. Barnard tat etwas, um den Kontrast zu verbessern, und auf einmal zeigte sich auf dem Objekt ein Fleckenmuster, wo vorher keins gewesen war. Da war auch eine Andeutung von Strahlen, die vom Kern in die umgebende Gaswolke ausströmte, so als dampften von dem Eisball unsichtbare Materieströme ab.
»Da ist Ihr Namensvetter, Amber. Froh, dass Sie mitgekommen sind?«
Sie beugte sich gespannt vor, die Sitzgurte, die sie am Wegschweben hinderten, drückten an Brust und Schultern. Nachdem sie das Bild eine halbe Minute lang betrachtet hatte, seufzte sie. »Letzte Woche habe ich mich das manchmal selbst gefragt, Crag. Aber jetzt … Um nichts in aller Welt hätte ich diesen Anblick versäumen mögen!«
Während Amber und Barnard mit ihren Beobachtungen beschäftigt waren, sahen ihnen die meisten anderen Wissenschaftler dabei mittels Bord-InterKom über die Schultern. Karin Olafson nutzte die Zeit, um sich mit ihrem Ehemann im Kontrollraum zu beraten. Es ging um den Zustand ihres Schiffes nach der zweiten Passage durch die Strahlungsgürtel des Jupiter.
»Glaubst du, sie kann noch eine weitere Dosis verkraften, Stinky?«
Chefingenieur Stormgaard nickte langsam. Der Kapitän betrachtete dabei die Narbe an seiner Schläfe, wo er vor Jahren von einem explodierenden Flügelrad verletzt worden war. Seitdem war die Narbe ein verlässlicher Indikator seiner jeweiligen Stimmung. Wenn Kyle ruhig war, war die Narbe fast unsichtbar, doch wenn er aufgebracht oder besorgt war, hob sie sich blässlich von der übrigen Haut ab. Zu ihrer Erleichterung vermochte sie sie kaum zu sehen.
»Wir sind in erstaunlich guter Verfassung hindurchgekommen«, antwortete er. »Wir werden eine hübsche Anzahl von Elektronikbauteilen ersetzen müssen, wenn wir hier erst mal wohlbehalten raus sind, aber das ist nichts, womit wir nicht zurechtkämen.«
Sie waren beide durch Sicherheitsleinen lose mit ihrer jeweiligen Liege verbunden, schwebten ansonsten aber frei unter der Kuppel. Schon viele Male hatten sie sich dort auf den Liegen geliebt, über sich eine riesengroße Erde und einen bodenlos schwarzen Himmel. Schwebend hielten sie einander mit der unbewussten Entspanntheit der lange Verheirateten bei den Händen.
»Was ist mit diesen kaputten Maschinenkontrollschaltungen? Sollen wir sie ersetzen, bevor wir diesem verdammten Kometen hinterherjagen?«
Stormgaard schüttelte den Kopf. »Nein, es sei denn, wir hätten vor, noch eine weitere Runde um Jupiter zu drehen. Schmidt oder Rodriguez müssten in den Anzug und rausgehen. Ich möchte nicht draußen sein, wenn die Astronomen plötzlich beschließen, in eine andere Richtung gucken zu wollen.«