»In Ordnung. Wann soll ich bei Ihnen sein?«
»In meinem Apartment, zwanzig Uhr. Saloppe Kleidung. Margaret wird ein paar Drinks vorbereiten.«
Amber saß an ihrem Schreibtisch auf einer der unteren Ebenen des Verwaltungstrakts und aktivierte ihr Terminal. Sogleich erschien auf dem Bildschirm ihr Tagesplan. Mit geübtem Blick überflog sie die Liste. Die üblichen Berichte und Übersichten waren anzufertigen, Daten zu korrelieren, und ganz unten stand eine private Nachricht von Direktor Meinz. Sie bestätigte den Erhalt. Es war eine offizielle Einladung des Direktors, der für den heutigen Abend um ihr Erscheinen in Niels Graysons Apartment bat. Ihr Ton verriet größere Besorgnis, als Niels’ Einladung beim Frühstück hatte erkennen lassen. Die Nachricht datierte vom gestrigen späten Abend. Amber diktierte eine Antwort und fragte sich, wie groß die finanziellen Probleme des Observatoriums wohl in Wirklichkeit waren.
Sobald der Computer seine Bestätigung gepiept hatte, wandte sie sich wieder den Aufgaben des Tages zu. Sie bemerkte einen Punkt drei Zeilen über der Nachricht des Direktors, runzelte die Stirn und drückte die entsprechende Taste, um die Sprachschaltung des Computers zu aktivieren.
»Ja, Miss Hastings?«, meldete sich das Gerät sogleich.
»Was bedeutet die Position neun auf meinem Tagesplan?«
»Das ist die Registriernummer der Beobachtung, die Sie vor fünfzehn Tagen beantragt haben.«
»Du musst mein Gedächtnis etwas auffrischen.«
»Es handelt sich um eine Kometensichtung im Sternbild Unicorn. Sie wollten eine Beobachtung mit dem 60-cm-Teleskop durchführen, sobald dieser Himmelsausschnitt wieder sichtbar würde.«
»Oh, ja. Bring es auf den Schirm!«
Auf ihrem Monitor erschien ein Sternenhaufen. Es war die gleiche Konstellation, die sie bereits vor zwei Wochen gesehen hatte, als sie die zweite Nachtschicht gehabt hatte. Sie betrachtete die Stelle, wo der Komet gewesen war. Er war immer noch da.
»Überlagere die beiden Bilder«, befahl sie.
Das Bild schien einen Moment lang zu verschwimmen, dann wurde es wieder scharf, als der Computer die beiden Aufnahmen synchronisiert hatte. Die Fixsterne waren dimensionslose Punkte, doch das Zielobjekt schien aus zwei winzigen diffusen Wölkchen zu bestehen.
»Wechselbildschaltung aktivieren!«
Einen Moment lang geschah gar nichts. Dann verschwand eines der beiden Bilder. Nach einer Sekunde erschien es wieder, und sein Gegenstück verschwand. Amber sah den verschwommenen Fleck im Sekundentakt vor und zurückspringen.
»Reicht das für eine Orbitbestimmung aus?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete der Computer. »Die Entfernung des Objekts von der Sonne beträgt etwa 1,2 Milliarden Kilometer. Es beschreibt eine kometentypische sehr weite Umlaufbahn, deren Perihel ein wenig jenseits des Mars liegt.«
»Wie lange dauert ein Umlauf?«, fragte Amber.
»In der Größenordnung von neun Millionen Jahren.«
Amber stieß einen leisen Pfiff aus. Eines der umhervagabundierenden Kinder der Sonne stattete dem Systeminneren einen seiner seltenen Besuche ab. Wenn die Computerschätzung der Umlaufzeit zutraf, war dies erst das fünfhundertste Mal seit der Entstehung des Sonnensystems, dass sich dieses Objekt der Sonne genähert hatte.
»Größenschätzung?«
»Nicht durchführbar. Der Kopf des Kometen wird durch die Koma verhüllt. Vielleicht wäre er mit einem größeren Instrument erkennbar.«
»Dieses verdammte Sechziger!«, murmelte Amber. Das Teleskop, das sie hatte einsetzen müssen, war eines der weniger leistungsfähigen Instrumente des Observatoriums. Es war nur für die Arbeit im sichtbaren Bereich des Spektrums ausgerüstet, und sein Photonendetektor war bereits zwanzig Jahre alt. Es handelte sich – mit den Worten nicht nur eines der jüngeren Belegschaftsmitglieder ausgedrückt – um einen Haufen Schrott.
»Zeig mir die Orbitaltoleranz«, befahl Amber.
Wieder veränderte sich ihr Bildschirm – er zeigte nun eine dreidimensionale Abbildung des Sonnensystems. Eine Reihe von Ellipsen erschien über den konzentrischen Kreisen, die die Umlaufbahnen der Planeten darstellten. Die Farben der Ellipsen reichten von Rot bis Violett, wobei Grün die wahrscheinlichste Umlaufbahn repräsentierte. Die roten und violetten waren zwei mögliche Extreme, bei denen alle möglichen Beobachtungsfehler berücksichtigt waren. Der Regenbogen der Farben durchschnitt die Planetebene zwischen Saturn und Jupiter und fächerte sich dann in beiden Richtungen auf. Der Punkt, an dem sich die Linien schnitten, war die geschätzte momentane Position des Objekts.
Ambers Augen folgten der Flugbahn des Objekts bis zu dem Punkt, wo sie den Orbit des Jupiter kreuzte. »Zeig mir eine beschleunigte Darstellung der Orbitalbewegung an dem wahrscheinlichsten Weg entlang.«
»Ich rechne.«
Die Ellipsen verschwanden, nur die smaragdgrüne Linie blieb auf dem Schirm zurück. Ein goldenes Kometensymbol schwebte herbei und wurde auf seinem Weg allmählich schneller. Als es sich Jupiter näherte, verschmolz der goldene Komet mit der weißumrahmten Planetenkugel.
»Stop! Den Mittelpunkt auf Jupiter, und dann zehnfache Vergrößerung. Fang da wieder an, wo der Komet auf dem Bildschirm erscheint.«
Der Maßstab veränderte und der Vorgang wiederholte sich. Der goldene Komet glitt den grünen Bogen entlang, während sich das Jupitersymbol gemächlich auf den Kometen zubewegte. Diesmal passierten die beiden Symbole einander in einem Abstand von wenigen Millimetern, dann trennten sie sich.
»Ich stelle fest, es handelt sich hier um einen nahen Vorbeiflug«, sagte Amber, mehr zu sich selbst als zum Computer. »Welches ist der kleinste Abstand?«
»Im Normalorbit wird der Komet im Abstand von 100.000 Kilometern am Jupiter vorbeifliegen.«
»Das ist praktisch eine Kollision!«
»Richtig.«
»Hast du den Einfluss des Jupiter auf die Umlaufbahn des Kometen berücksichtigt?«
»Vorliegende Daten nicht ausreichend«, erwiderte der Computer mit einer Sachlichkeit, die Amber irritierend fand. »Die mögliche Spannweite der Annäherungsbahnen macht eine solche Berechnung aussagelos.«
»Rechne es trotzdem durch. Zeig mir die Fluchtorbits für rote, gelbe, grüne, blaue und violette Umlaufbahnen.«
»Wird ausgeführt.«
Amber bedachte die Lage, solange die neuen Linien langsam auf dem Bildschirm erschienen. Jupiter war das Schwergewicht unter den Planeten. Mit einer Masse vom Zweieinhalbfachen der Masse aller übrigen Planeten zusammen, zerrte der König der Planeten an seinen Nachbarn über große Entfernungen hinweg. Es war dem Einfluss des Jupiter zuzuschreiben, dass auf der Umlaufbahn des Asteroidengürtels kein Planet entstanden war.
Wie der Computer vorausgesagt hatte, hatte die Unsicherheit darüber, wie weit der Komet sich Jupiter annähern würde, dramatische Auswirkungen auf seine anschließende Flugbahn. Einer möglichen Flugbahn zufolge konnte er vollständig aus dem Sonnensystem herausgeschleudert werden. Auf einer anderen Bahn würde der Komet in die Sonne stürzen. Auf einer dritten würde er um die Riesenwelt herum eine Haarnadelkurve beschreiben und kehrtmachen.
Es war klar, dass eine Begegnung mit dem König der Planeten unmittelbar bevorstand, und dass so gut wie alles geschehen konnte.
»Ich bin ja so froh, dass Sie kommen konnten, Amber.«
»Die Freude liegt ganz auf meiner Seite, Margaret«, erwiderte Amber, als Niels Graysons Frau sie durch die Tür in das Apartment des Astronomen geleitete. Margaret Grayson war eine rothaarige, hochgewachsene Frau, deren Gesicht und Figur ihre fünfzig Jahre Lügen straften. Mit den Jahren hatte sie die Rolle des Schiedsrichters bei sozialen Konflikten innerhalb der Observatoriumsgemeinschaft eingenommen. Außerdem war sie ein erstklassiger Fotoauswerter. Amber hatte jedes Mal, wenn sie zusammengearbeitet hatten, Gelegenheit gehabt, sich von ihren Fähigkeiten beeindrucken zu lassen.