»Vergiss es nicht. Aber lass dich auch nicht davon auffressen. Du bist für die Erde gerade jetzt von vitaler Bedeutung. Wir alle sind das. Wenn du mir nicht glaubst, dann denk nur mal daran, wie hilflos du dich jetzt im Farside-Observatorium fühlen würdest. Wir sind die Augen und Ohren der Menschheit. Wir melden weiter, was wir zu sehen bekommen, wenn wir den Kern erreicht haben. Alles andere ist im Moment nebensächlich.«
»Aber was ist, wenn sie den Kern nicht schneller machen können?«
Er zuckte mit den Achseln und löste die Blase umständlich vom Schott. »In diesem Fall essen wir, trinken wir und freuen uns des Lebens. Solange es geht.«
21
»In Ordnung, schwenken wir auf Weitwinkel zurück.«
Amber berührte einen Schalter, und die sechs alten Spiegel rückten in ihrem hexagonalen Rahmen in einen neuen Brennpunkt. Das kleine kugelförmige Objekt, das im Mittelpunkt des Gesichtsfeldes des Teleskops gelegen hatte, kontrahierte rasch bis zur Unsichtbarkeit und wurde von einer leuchtenden Wolke ersetzt. Die Kometenkoma hatte sich seit dem Verlassen des Jupitersystems verdichtet und würde während des nächsten Jahres damit fortfahren. Die durch den Sonnenwind hervorgerufene Reibung würde ungefähr zu dem Zeitpunkt einen erkennbaren Schweif ausbilden, wenn der Asteroidengürtel erreicht war.
Die Admiral Farragut war vor fünf Tagen in den Protoschweif eingedrungen. Während der Monate nach Verlassen des Jupiter waren sie dem Eisasteroiden dreißig Millionen Kilometer in Richtung Sonne nachgejagt. Zu keinem Zeitpunkt war er anders denn als hellstrahlender Halbmond erschienen. Ihre Versuche, die Oberfläche zu kartografieren, indem sie Aufnahmen machten, während sie gleichzeitig um den Kometen herumrotierten, hatten sich als unfruchtbar erwiesen. Detailbeobachtungen der Oberfläche des Kerns wurden durch die umgebende Wolke aus Gas und Staub vereitelt.
»Weitwinkeldarstellung«, meldete Amber, als sich das Bild stabilisierte.
»Maximaler Kontrast!«, befahl Cragston Barnard.
Der Bildschirm veränderte sich erneut. Die Filamente einer eingefrorenen Explosion kamen ins Bild. Die geschwungenen Formen waren zu schwach ausgeprägt, als dass man sie normalerweise hätte erkennen können; erst die Fähigkeit des Computers, kleinste elligkeitsunterschiede zu kontrastieren, machte sie sichtbar. Sie strahlten vom Kern aus und markierten deutlich seine Position, auch wenn er nicht mehr länger zu sehen war.
»Kein Zweifel weiterhin möglich«, sagte Barnard, nachdem er die photometrischen Werte für mehrere Regionen der Koma abgelesen hatte. »Der Kern entgast viel schneller als angenommen.«
»Trotzdem ist der Prozentanteil der flüchtigen Komponenten in der Wolke stabil«, sagte Amber. »Er sollte eigentlich zunehmen.«
Der alte Astronom schüttelte den Kopf. »Alle unsere Beobachtungen deuten darauf hin, dass der Kern, abgesehen von seiner Größe, ein ganz normaler Eisklumpen ist. Nein, wir haben irgendetwas übersehen, und ich glaube, ich weiß, was es ist.«
»Was glauben Sie?«
»Intern gebildete Hitze als Folge der Gezeitenspannungen bei dem nahen Vorbeiflug an Jupiter.«
»Gravitationsbedingte Verwerfungen?«
Barnard nickte. »Die Annäherung muss irgendwie sein inneres Gleichgewicht gestört haben. Die im Innern entstandene Hitze dringt jetzt allmählich an die Oberfläche.«
»Schon möglich«, stimmte Amber zu. »ravitationsspannungen halten das Innere von Callisto flüssig, und bedenken Sie auch, wie weit der von Jupiter entfernt ist.«
Barnard deutete auf einen besonders hellen Streifen. »Schauen Sie sich diesen Strahl an! Er muss aus einem grö ßeren Riss in der Oberfläche hochsprudeln.«
»Aus diesem großen Krater, den wir beim Vorbeiflug gesehen haben?«
Er nickte. »Oder aus tiefen Verwerfungen in seiner Umgebung. Ein wirklich tiefer Riss könnte sich wie ein Hitzebrunnen verhalten.«
»Er müsste ziemlich tief sein«, gab sie zu bedenken.
Barnard zuckte mit den Achseln. »Wie man auch erwarten sollte, wenn man die Größe des übriggebliebenen Lochs bedenkt.«
»Ich bin gespannt, ob Sie Recht behalten, wenn wir näher dran sind.«
»Wie wär’s mit einer kleinen Wette?«
»Nie im Leben, Chef! Sie haben in letzter Zeit schon zu oft Recht behalten.«
Während sie die Kontrollen des Teleskops bediente, summte Amber vor sich hin. Ihre Stimmung war vollkommen anders als nach der Entdeckung der schrecklichen Wahrheit über ihren Namensvetter. Der Grund für ihren Stimmungsumschwung war für jedermann an Bord offensichtlich. Amber war verliebt!
Sie und Tom hatten an jenem Tag in seiner Kabine einen weiteren Drink genommen. Halb damit fertig, hatten sie begonnen, in Erinnerungen zu schwelgen. Dann kam die Rede auf die Abmachung, die sie in San Francisco getroffen hatten. Als sie die dritte Trinkblase geleert hatten, sah Amber ein, dass es unsinnig war, Zeit zu verschwenden, wenn das Ende der Welt bevorstand. Sie hatten darüber gelacht.
Dann war das Gelächter plötzlich verstummt. Aus einem langen Blick wurde eine Umarmung. Hungrige Lippen suchten einander. Was als Nächstes geschah, war so natürlich wie Atmen. Mitten im Liebesakt hatte es sogar eine lustige Unterbrechung gegeben, als sie beim Ertönen des Beschleunigungsalarms gezwungen waren, sich in die Sicherheitsgurte hineinzuwinden, ohne sich voneinander zu lösen. Die Triebwerke der Admiral Farragut erwachten zum Leben, und die beiden Liebenden beendeten, was sie angefangen hatten, bei einem halben g Beschleunigung.
Später hatten sie in gegenseitiger Umarmung geschlafen und sich am Morgen noch einmal geliebt. Beim Frühstück hatte sie vor versammelter Mannschaft erklärt, dass sie bei Tom einziehen werde. Niemand schien davon sonderlich überrascht.
»Also gut«, sagte Barnard, der sich neben ihr streckte und sie aus ihren Träumereien aufschreckte. »Das ist für dieses Mal genug. Programmieren Sie die Komabeobachtungen und stellen Sie das System auf Automatik um. Bis zur ersten Wache brauche ich Sie nicht mehr.«
»Sind Sie sicher, Craig?«
»Ganz sicher. Ich hatte heute beim Frühstück den Eindruck, unser aller Chef ist darüber unglücklich, dass ich Ihre Zeit so ausschließlich beanspruche. Wenn Sie mit dem Programmieren fertig sind, will ich Sie vor morgen früh nicht wieder sehen.«
Karin Olafson lag auf ihrer eschleunigungscouch und betrachtete den Kometenkern auf der Projektionskuppel über sich. Der endlose Nebel begann sich zu lichten. Sie hatte auf die Treibstoffreserven des Schiffes zurückgegriffen, um einen Monat früher einzutreffen, doch erst seit ein paar Stunden konnten sie ihr Ziel mit dem bloßen Auge sehen.
»Wie groß ist der Abstand, Mr. Rodriguez?«
»Fünftausend Kilometer, abnehmend, Captain.«
»Bitte erkundigen Sie sich bei Professor Barnard, ob er genügend Annäherungsdaten hat. Ich bin bereit, das Schiff zu wenden.«
»Verstanden.« Es war ein leises Murmeln zu vernehmen, während Rodriguez mit der astronomischen Abteilung sprach. Dann sagte er: »Fertig, wann immer Sie so weit sind, Kapitän.«
Karin blickte über die Schulter zu ihrem Mann hinüber. »Alles klar zum Wenden, Chefingenieur?«
»Alles klar, Captain.«
»Okay. Bereithalten für die Durchsage.« Sie tippte auf den Hauptschalter des Bord-InterKoms. »Achtung, an alle! Ich wende das Schiff für das Abbremsmanöver. Achten Sie auf Corioliskräfte und vermeiden Sie heftige Armbewegungen. Wendemanöver in dreißig Sekunden!«
Karin zündete zeitplanmäßig die Korrekturtriebwerke. Das Habitatmodul begann beim Geräusch der Zündung zu vibrieren. Das Geräusch war noch nicht wieder erstorben, als der Himmel auf der Kuppel zu rotieren begann. Sie beobachtete aufmerksam das Kompassgitter der Projektion. Als das Schiff darauf wenige Grad vor dem Wendepunkt lag, zündete sie erneut die Triebwerke. Ein zweites Whom! brachte die Rotation zum Stillstand. Im Zenit der Kuppel befand sich ein kleiner gestreifter Planet von beinahe unerträglicher Helligkeit. Aus einer Entfernung von dreißig Millionen Kilometern betrachtet, war Jupiter halb so groß wie der Mond von der Erde aus gesehen. Sein helles Licht durchdrang die Koma und gab ihr das Aussehen eines Vollmondes in einer diesigen Nacht.