In der Messe drängten sich die Schiffsoffiziere. Nicht nur die höheren Offiziere der Goliath waren anwesend, sondern auch die Kapitäne, Ersten Offiziere und Chefingenieure der beiden anderen Schiffe. Barbara ordnete ihre Notizen auf einem Podium und reichte den Datenspeicher, den sie brauchen würde, einem Raumfahrer. Als alles so weit war, bat sie darum, das Licht zu dimmen.
»Guten Morgen, meine Damen und Herren«, begann sie. »Mein Name ist Barbara Martinez, und ich nehme als Programmiererin am Unternehmen Donnerschlag teil. Ich bin hier, um Sie über das zu unterrichten, was wir bis jetzt über den Kometenkern herausgefunden haben, und um Ihre Fragen zu beantworten.«
Barbara rief die erste Grafik ab, eine Gesamtansicht von Donnerschlag, vom Raum aus gesehen. Sie erläuterte, was der Kometenkern war und warum er eine Gefahr darstellte, dann gab sie einen Überblick der Oberflächenmerkmale. Als sie zum Ground-Zero-Krater kam, erläuterte sie Gwilliam Potters Plan, einen großen Brocken herauszusprengen, um die Bahn des Kometen zu verändern. Als sie ihre Erklärungen beendet hatte, hob ein grauhaariger Raumkapitän die Hand.
»Ja, Sir. Sie sind wer?«
»Captain Jacques Marche, von der Godzilla. Diese Antimateriebomben, die jedes Schiff befördern soll – wie viele sind es?«
»So viele wie möglich, Captain. Im Moment haben wir achtunddreißig Kilogramm Antimaterie für die Sprengladungen vorgesehen. Sie dürfen mir glauben, dass wir jedes einzelne Lager im Sonnensystem leerräumen mussten, um diese Menge zu bekommen.«
»Wird es reichen?«
»Wir glauben ja. Nicht alles wird gleich beim ersten Versuch eingesetzt werden. Wenn der Komet beim ersten Mal kein ausreichend großes Stück abspaltet, versuchen wir es noch öfter. Der Systemrat hat alle Kraftwerke im Orbit angewiesen, mit voller Kraft Antimaterie zu produzieren, selbst wenn sie die Lieferung anderer Energien an die Erde einschränken müssen. Dadurch werden vor dem Tag ›Z‹ ein paar weitere Kilogramm Antimaterie verfügbar.«
»Tag ›Z‹?«
»Tag des Zusammenstoßes.«
»Wie ich höre, erreichen wir den Kometen ein ganzes Jahr vor diesem Datum«, sagte ein anderer Kapitän.
»Das ist richtig. Wir hoffen, dass wir die erste Ladung bei Z minus 250 werden zünden können. Anschließend werden wir alle dreißig Tage sprengen, falls es sich als nötig erweisen sollte.«
»Ich mache mir Sorgen um mein Schiff. Ich bin gebeten worden, die Tanks auf der Hinreise leerzufliegen. Warum nicht etwas später ankommen und Treibstoff für Notfälle aufsparen?«
»Wir müssen den Kern so schnell wie möglich erreichen«, antwortete Barbara. »Je näher Donnerschlag der Erde kommt, desto schwieriger wird es, ihn dahin zu bringen, dass er sie verfehlt.«
Amber bewegte sich unruhig im Schlaf und wunderte sich, warum es so kalt war. Sie musste wieder im Kälteschlaftank sein, sagte sie sich. Suchend streckte sie einen Arm aus, in der Hoffnung, die manuelle Abschaltung zu finden. Nicht da. Sie fühlte sich, als wären ihre Glieder in schwere Gaze gewickelt. Die Kälte wurde mit einem Mal schlimmer, und irgendwo in ihrem Schädel begann ein heftiges Hämmern. Sie öffnete die Augen und blickte nach oben. Ein schneeweißes Glänzen reflektierte ihre Instrumentenlämpchen einen Zentimeter vor ihrem Gesicht.
Schneeweißes Glänzen!
Ihre Erinnerung sprang zu dem Moment zurück, als sie und Kyle fassungslos zu einer Eisschicht hochstarrten, die langsam auf sie herunterfiel.
»Keine Panik«, hatte ihr Stormgaard geraten. »Schwenken Sie Ihre Lampe nach Westen, während ich es im Osten versuche. Schauen Sie, ob Sie den Rand des Erdrutsches ausmachen können.«
Sie tat, wie er ihr gesagt hatte. Die gesamte Nordwand der Spalte schien eingedrückt zu sein. So weit ihre Lampe reichte, sah Amber über sich nichts als Eis. Der Anblick erinnerte sie an Bilder, die Taucher unter den polaren Eiskappen der Erde aufgenommen hatten. Sie gab ihre Beobachtung an Stormgaard weiter.
»Hier das Gleiche«, sagte er. »Wir werden uns durchkämpfen müssen. Antrieb auf volle Leistung. Arme anlegen. Haben Sie keine Angst, dass der Helm zerbrechen könnte. Er hält mehr aus als Sie.«
Sie hatte geschluckt und seinen Rat befolgt, und sie waren in die Höhe geschnellt, auf die herabfallende Lawine zu. Amber erinnerte sich an ein lautes Krack, als ihr Helm gegen die herabfallende Schicht aus schmutzigem Weiß gestoßen war. Stormgaards Beteuerungen zum Trotz wartete sie auf den Luftzug, der die beginnende explosive Dekompression ankündigen würde. Der Helm hielt, doch bei dem Aufprall schlugen ihre Zähne aufeinander. Der Eisrutsch war nicht massiv, sondern bestand aus faustgroßen Brocken. Sie konnte am Bombardement erkennen, dass sie an Höhe gewann. Es war, als würde man mit Steinen beworfen. Dann hörte das Geprassel auf, und das vor ihrem Visier herabfallende Eis verlangsamte sich. Plötzlich war das Eis um sie herum zum Stillstand gekommen. Sie wurde von der allgemeinen Abwärtsbewegung wieder nach unten gezogen.
»Kyle, ich sitze fest!«, funkte sie. Ihr Ausruf wurde nicht beantwortet. Entweder war die Antenne abgebrochen, oder Stormgaard wurde durch zu viel Eis abgeschirmt. Amber bedachte ihre Zwangslage. Der Eisrutsch würde den Boden der Spalte in wenigen Sekunden erreichen, und dann würde es ein fürchterliches Knirschen geben. Sie musste sich befreien, bevor es dazu kam.
Dann wurde es dunkel um sie. Als sie das Bewusstsein wiedererlangte, war es ihr, als befände sie sich wieder im Kälteschlaf. Sie passte ihre Augen an, um auf das elmchronometer zu sehen. Es war eine Stunde her, dass sie und Stormgaard die Spalte betreten hatten, und beinahe eine halbe Stunde, dass sie ihren panischen Aufstieg begonnen hatten. Eine halbe Stunde. Wurde sie bereits vermisst? Machte sich jemand Sorgen um sie? Vielleicht waren sie bereits oben und heftig am graben, um zu ihr vorzustoßen. Falls ja, müssten sie sich beeilen.
Sie versuchte Arme und Beine zu bewegen und stellte fest, dass sie festgehalten wurde. Das verwunderte sie zunächst. Wenn sie sich nun den Nacken gebrochen hatte? Dann gewann die Vernunft die Oberhand. Wenn sie gelähmt wäre, sagte sie sich, hätte sie nicht ihre Finger und Zehen spüren können. Sie taten sämtlich entweder weh oder kribbelten. Es fühlte sich beinahe so an wie damals, als sie nach einem Experiment im Chemieunterricht Erfrierungen bekommen hatte.
Erfrierungen!
Bei dem Gedanken daran neigte sie den Kopf nach vorn, um mit dem Kinn den Heizregler zu verstellen, wobei sie feststellte, dass er bereits auf voller Leistung stand. Plötzlich wurde ihr der Grund für ihre Unbeweglichkeit klar. Bei der geringen Schwerkraft des Kerns und dem lose gepackten Eis um sie herum hätte sie in der Lage sein müssen, sich zu bewegen. Die Tatsache, dass sie sich nicht rühren konnte, deutete auf eine bedrohlichere Möglichkeit hin.
Verglichen mit der Temperatur des umgebenden Eises glühte Ambers Körper beinahe. Ihr Raumanzug war dazu gedacht, ihre Körperumgebung vor der Wärme zu schützen, die sie abstrahlte, und sie gleichzeitig in seinem Innern warmzuhalten. Während sie bewusstlos gewesen war, hatte ihr Anzug das Eis geschmolzen und sie in eine Wasserlache getaucht. Als die Außenseite des Anzugs abgekühlt war, hatte sich das Wasser jedoch wieder in Eis verwandelt. Als Amber erwacht war, war sie im Zentrum eines Eisblocks von ungewisser Dicke festgefroren.
Erst jetzt begann sie sich zu ängstigen. Im Hinterkopf hatte sie an ihre Luftvorräte, Nahrung und Trinkwasser gedacht. Jetzt wusste sie, dass nichts davon wichtig war. Das einzig Wichtige war die Kälte. Sie konnte bereits fühlen, wie sie in ihre Extremitäten einsickerte und sie betäubte. In weiteren zehn Minuten würde sie jegliches Gefühl in den Gliedern verloren haben. Weniger als eine halbe Stunde später würde sie starr gefroren sein, tote Anhängsel eines sich rasch abkühlenden Rumpfes.