»Oort-Wolke?«, fragte Malvan.
»Dort kommen die Kometen her. Sie erstreckt sich vom Pluto bis zur Hälfte der Strecke zum nächsten Fixstern. Das meiste davon sind die Überbleibsel aus der Zeit, als sich das Sonnensystem verdichtet hat. Mit seinem Neun-Millionen-Jahre-Orbit dringt der Komet tief in die Wolke ein.«
»Wollen Sie damit sagen, dass der Komet von einem Ort auf halbem Weg zum nächsten Fixstern kommt?«
»Nicht von ganz so weit her. Mehrere Tausend Astronomische Einheiten«, antwortete Grayson, ehe er sich an Amber wandte. »Womit haben Sie beobachtet?«
»Mit dem Sechzig-Zentimeter, und dafür ist es nicht ganz das Richtige. Glauben Sie, ich könnte Zugang zum Großen Auge bekommen?«
»Nun, wir können es zumindest versuchen.«
John Malvan hob sein Glas. »Das verlangt geradezu nach einem Toast! Schließlich wird nicht jeden Tag ein neuer Komet entdeckt. Auf unseren jungen Galilei hier!«
Sie prosteten einander zu, doch Amber wand sich unbehaglich auf ihrem Stuhl. Dass auf sie aus einem so irrelevanten Anlass wie der Sichtung eines Kometen ein Trinkspruch ausgebracht wurde, war peinlich. Sie hoffte, Niels Grayson würde den Vorfall niemandem weitererzählen. Die anderen jungen Angestellten würden sie deswegen unbarmherzig aufziehen.
»Zurück ins Bett!«
Tom Thorpe blickte sich beim Klang der Stimme der Krankenschwester um. Sie hatte ihn dabei erwischt, wie er, auf seine Krücken gestützt, den Schrank seines Krankenzimmers durchstöberte. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, als er der weißgekleideten Bewacherin den Rücken zukehrte und seine Suche fortsetzte. »Ich weiß genau, dass man mir Straßenkleidung gebracht hat, als ich unten in der Therapie war, Schwester Schumacher«, sagte er schließlich. »Was haben Sie mit dem Paket gemacht?«
»Wie Sie eigentlich wissen müssten, Herr Thorpe, hat es der Beförderungsrobot im Schwesternzimmer hinterlegt. So ist es hier im Krankenhaus üblich. Und jetzt machen Sie, dass Sie wieder ins Bett kommen, bis Dr. Hoffmann Sie entlässt. Oder soll ich einen Sanitäter rufen und Sie gewaltsam ruhigstellen lassen?«
»Nein, danke«, erwiderte Thorpe. »Für ein paar Stunden kann ich noch ein braver Junge sein.«
Thorpe kletterte langsam in das schmale Krankenbett zurück, das den vergangenen Monat über sein Zuhause gewesen war. Dem Wortwechsel mit der Krankenschwester zum Trotz war er im Großen und Ganzen zufrieden. Er hatte vergessen, wie stark die Erdgravitation war. Allein schon die Tatsache, dass er sich auf der Erde befand, bewies, wie nahe er nach dem Unfall dem Tod gewesen sein musste. Die übliche Prozedur vor der Rückkehr in den Bereich normaler Schwerkraft bedeutete die strikte Einhaltung einer Diät und spezielles Training. Andernfalls riskierte man ein Herzversagen. Seine Anwesenheit in einem Krankenbett in den Schweizer Alpen war Beleg genug, dass Herzversagen die kleinste Sorge seiner Retter gewesen war.
Thorpe erinnerte sich nur bruchstückhaft an seinen Unfall, obwohl ihm ein Monat im Bett viel Zeit gelassen hatte, den Bericht zu lesen. Der Anhebevorgang war perfekt abgelaufen, bis zu dem Zeitpunkt, wo die Kranführer begonnen hatten, die Ladung abzubremsen. Dann hatte sich eine der Seilbremsen festgefressen und das Seil Nummer zwei plötzlich zum Halten gebracht. Die plötzliche Stockung hatte zu viel Zug auf das Seil übertragen und es irgendwo zwischen Turm und Ladung reißen lassen. Von seinem Zug befreit, war das gerissene Seil wie eine Peitsche zurückgeschnellt.
In einer Beziehung hatte Thorpe Glück gehabt. Wenn das zehn Zentimeter dicke Seil auf ihm gelandet wäre, dann wäre von ihm nicht genug übriggeblieben, um ihn zu identifizieren. Das gebrochene Ende war jedoch hundert Meter von der Stelle herabgestürzt, an der er und Nina gestanden hatten. Die Wucht des Aufpralls zerschmetterte die Seilstränge und schickte eine Wolke von Splittern in ihre Richtung. Ein Stück traf Thorpe genau unterhalb seines rechten Knies, schlug ein Loch in seinen Raumanzug und zerschmetterte sein Bein. Im Anzug war es augenblicklich zu einem Druckabfall gekommen, und bald darauf hatte er das Bewusstsein verloren.
Stechende Schmerzen in den Augen und Ohren waren normalerweise das Letzte, was ein Opfer rascher Dekompression empfand. Thorpe erinnerte sich, dass er daran gedacht hatte, als er ohnmächtig wurde. In dem Moment, als Nina die Wolke aus rotem Dampf aus Thorpes Bein explodieren sah, begann sie um Hilfe zu rufen. Dann hatte sie den verstellbaren Sicherheitsgurt von ihrem Anzug gestreift und dazu benutzt, um an Thorpes Hüfte eine primitive Aderpresse anzubringen. Die Abbindung hatte so gut dichtgehalten, dass sie Thorpes durchschlagenen Anzug wieder unter Druck setzen konnte. Das Unfallteam war drei Minuten später eingetroffen. Sie hatten Thorpe in einen Rettungsbeutel gesteckt und ihn augenblicklich aufgeblasen. Dann war es nur noch darum gegangen, ihn so rasch wie möglich in ein Krankenhaus auf der Erde zu schaffen.
»Der Arzt kommt jetzt, Mr. Thorpe.«
Tom fuhr bei der Berührung einer Hand auf seinem Arm und der plötzlichen Stimme nahe an seinem Ohr zusammen. Er öffnete die Augen und erblickte eine andere Krankenschwester, die sich über ihn gebeugt hatte. Er sah zum Fenster. Dem Winkel des Sonnenlichts nach zu schlie- ßen, musste eine Weile vergangen sein. Seine Überlegungen hatten ihn wohl so müde gemacht, dass er eingeschlafen war.
Thorpe schaffte es, sich rechtzeitig in eine sitzende Position hochzuziehen, um die vertraute glatzköpfige Gestalt von Dr. Eric Hoffmann mit der ewig unangezündeten Zigarre zwischen den Zähnen durch die Tür treten zu sehen.
»Guten Morgen, Herr Thorpe. Was macht Ihr Bein?«
»Es tut weh.«
»Sehr gut!«, sagte Hoffmann auf Deutsch.
»Das würden Sie an meiner Stelle nicht sagen.«
»Ich würde sagen, dass ich allen Grund zur Freude hätte! Erinnern Sie sich, als Sie eingeliefert wurden, waren wir keineswegs sicher, dass wir Ihr Bein würden retten können. Aus diesem Grund wurden Sie ja nach Bern geschickt. Glauben Sie mir, ein schwacher Schmerz ist ein sehr gutes Zeichen.«
»Es tut aber immer noch weh.«
Der Arzt unterzog Thorpe einer zwanzigminütigen Untersuchung, die das übliche Pieksen und Knuffen einschloss. Endlich verkündete er ihr Ende mit den Worten: »In Ordnung, Sie können Ihren Schlafanzug ausziehen.«
»Aber, Herr Doktor, bin ich fit genug, um entlassen zu werden?«
Der Arzt nickte. »Sie scheinen sich auf dem Wege der Besserung zu befinden. Ihre Augen sind nicht mehr blutunterlaufen, und Ihr Trommelfell ist hübsch verheilt. Ich habe mir Ihre Untersuchungsergebnisse angesehen, und Sie scheinen von der Anoxie keinen dauerhaften Schaden davongetragen zu haben. Und schließlich haften die Nägel in Ihrem Bein an den Knochen ganz wie erwartet. Wohin werden Sie sich wenden, wenn Sie uns verlassen?«
»Die Gesellschaft hat mich in einem Erholungsheim auf Oahu angemeldet.«
»Ah, Hawaii! Ein wundervoller Ort. Frau Hoffmann und ich haben dort vor fünf Jahren Urlaub gemacht. Nun, tanken Sie gehörig Sonne und lassen Sie Ihr Bein in Ruhe, zumindest bis der Gipsverband entfernt worden ist. Das müsste in etwa zwei Wochen sein.«
»Danke, Doktor. Äh … es tut mir leid, dass ich nicht immer Ihr bester Patient gewesen bin.«
Der Arzt zuckte mit den Achseln. »Ich hatte schon schlimmere. Ich habe gehört, dass Sie heute Morgen nach Ihren Sachen gesucht haben. Ich werde Schwester Schumacher sie Ihnen bringen lassen. Und ich werde die Medikamentenausgabe anweisen, Ihnen etwas gegen die Schmerzen zu schicken. Erholen Sie sich gut auf Hawaii, Mr. Thorpe. Wenn Sie wiederhergestellt sind, kommen Sie doch bestimmt wieder einmal zum Skilaufen in die Schweiz, ja?«
»Vielleicht, Doktor!«
»Gut! Jetzt muss ich mich aber um meine anderen Patienten kümmern. Auf Wiedersehen und alles Gute!«