»Wie konnten wir uns nur so schwer irren?«, fragte Amber schließlich. »Wir wussten doch, dass es bei einigen Schächten Probleme geben würde, aber doch nicht bei allen!«
»Du weißt nicht, ob sie alle geborsten sind«, erinnerte sie Thorpe.
»Aber jedenfalls ausreichend viele. Wir hätten irgendwo anders versuchen sollen, ein Stück herauszubrechen. Der Ground-Zero-Krater war schon zu stark geborsten.«
Er schüttelte den Kopf. »Das haben wir doch schon alles durchgekaut. Der GZK war der beste Ansatzpunkt.«
»Was fangen wir jetzt an, Tom?«
»Wir denken uns etwas Neues aus«, sagte er.
»Was denn Neues? Wir haben soeben achtundzwanzig Kilogramm Antimaterie verschwendet! Uns bleiben jetzt weniger als zehn Kilo.«
Als er sich in der Messe umsah, entdeckte Thorpe überall schockierte Gesichter. Er wusste, wie den anderen zumute war. Zu scheitern, das war, als habe man einen harten Schlag in den Magen bekommen. Der Misserfolg machte es schwierig, nachzudenken. Zum ersten Mal begann er sich zu fragen, ob die Menschheit wirklich verloren war. Bis jetzt hatte er diesen Gedanken unbarmherzig verdrängt. Er löste sich von Amber und stieß sich ab.
»Wo willst du hin?«, fragte sie, während sie sich große Tränen aus den Augen wischte.
»Ich werde mich betrinken. Kommst du mit?«
»Das ändert doch nichts.«
»Vielleicht nicht, aber ich werde mich danach besser fühlen.« Mit diesen Worten stieß er sich zur Luke der Messe ab. Kurz bevor er sie erreicht hatte, wandte er sich um und blickte auf den Holoschirm. Die Nachtseite von Donnerschlag kochte immer noch mit ungebrochener Gewalt, während ein Geiser aus Dampf in das schwarze Firmament emporstieg. Trotzdem setzte der Komet seinen Weg fort, unbeeindruckt vom Schlimmsten, was ihm die Menschheit antun konnte.
Vierter Teil
Impuls
28
Beschädigt, doch unbesiegt, setzte der Komet seinen langen Fall ins Innere des Sonnensystems fort. Das Bemühen der Menschheit, einen Teil seiner Kruste abzusprengen, hatte wenig mehr erreicht, als der Sonne einige neue Adern zu öffnen. Die Verdampfungsrate stieg von Minute zu Minute und vergrößerte die sich entfaltende Koma und den Schweif des Kometen. Davon abgesehen, hatten die titanischen Explosionen bemerkenswert geringe Auswirkungen gehabt. Der Komet stürzte auf die Sonne zu und tauschte Lageenergie gegen Geschwindigkeit ein. Der unsichtbare Griff der Sonne bestimmte seine Flugbahn mit mathematischer Präzision. Jeder Tag brachte ihn dem Perihel und dem Moment näher, da er um die Sonne herumschwingen und unwiderruflich die Erde anvisieren würde, die Wiege der Menschheit.
Die auf den erfolglosen Versuch, Donnerschlag auf seiner Bahn zu beschleunigen, folgende Woche war schlimm für alle Beteiligten. Auf allen vier Schiffen der Flotte lagen die Nerven bloß. Es gab mehr als ein Dutzend Faustkämpfe und zwei Selbstmorde. Mittel gegen Alkoholkater waren die in den Krankenabteilungen am häufigsten ausgegebenen Medikamente.
Nur: Wenn die Dinge in der Flotte schon schlecht standen, so standen sie auf der Erde noch schlechter. Während des letzten Jahres hatte sich die Öffentlichkeit nicht viele Gedanken über den Kometen gemacht. Abgesehen von einem kurzen Aufflammen des Interesses zu der Zeit, als der Komet seinen volkstümlichen Namen bekommen hatte, hatten sich die Milliarden Erdbewohner um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert, im Vertrauen darauf, dass die Wissenschaftler die Lage unter Kontrolle hatten. Die meisten hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Sprengungen über Holovision zu verfolgen.
Die Unglücksmeldung verbreitete sich rasch. Es hatte eine mehrere Stunden währende Ruhepause gegeben, während der die Ungeheuerlichkeit dessen, was geschehen war, allmählich begriffen wurde. Dann begannen die Unruhen.
In New York strömten Menschenmassen zu dem alten UN-Gebäude, Sitz von Sky Watch und mehreren anderen ultinationalen Behörden. In Toronto versammelten sie sich rund um das Nordamerikanische Parlament. In Den Haag wurden sie vom New Ridderzaal Tower angezogen. Überall suchten sie Trost bei den Schaltstellen der Macht, und als sie keinen bekamen, begannen sie zu randalieren. Die Unruhen, die ersten dieser Art seit Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, trafen die Polizei zumeist unvorbereitet. Sie wüteten vier Tage lang. Dann legte sich eine trügerische Ruhe über den Planeten. Doch die Zentren jeder größeren Stadt zierten die Gerippe ausgebrannter Gebäude.
Noch während draußen der Aufruhr tobte, trat der Systemrat zu einer Krisensitzung zusammen, um zu beschlie ßen, was zu tun sei. Man blieb volle 120 Stunden zusammen und vertagte sich nur, wenn die Erschöpfung eine Unterbrechung notwendig machte. Mehr als sechzig Arbeitsgruppen waren gebildet worden, um die Lage zu wenden. Unglücklicherweise hatte niemand eine klare Vorstellung davon, wie dabei vorzugehen sei.
Die Menschen draußen auf dem Kometen taten trotz ihrer Enttäuschung und Wut ihre Pflicht. Schon nach wenigen Stunden begannen die Wissenschaftler ihre Aufzeichnungen zu studieren, um herauszufinden, was schiefgegangen war. Den ersten Hinweis bekamen sie, als sie Gelegenheit hatten, sich den Boden des Ground-Zero-Kraters anzusehen. Die Eisfläche, die schon immer von ringförmigen Rissen durchzogen gewesen war, zeigte nun ein Zickzackmuster. Die neu entstandenen Brüche wiesen eine beunruhigende Kongruenz mit unterirdischen Gesteinsadern auf, die einen Großteil des Kratergebiets durchzogen.
In der ersten Woche nach der Explosion machten die Bedingungen in und um den Krater das Landen zu einem riskanten Unternehmen. Unter der Kruste war überhitzter Dampf in Blasen eingeschlossen. Beim Abkühlen kondensierte der Dampf und ließ große, unter Vakuum stehende Leerräume zurück. Wenn diese Blasen einstürzten, lösten sie mächtige Eruptionen aus. Befanden sie sich nah genug an der Oberfläche, entstanden riesige Vertiefungen, sobald die Kruste, nachdem sie von unten plötzlich keine Stütze mehr hatte, kollabierte.
Als es endlich hieß, der Krater könne gefahrlos inspiziert werden, nutzte Thorpe seine Stellung als Expeditionsleiter, um selbst für die Bodenmannschaft eingeteilt zu werden. Er schloss sich Amos Carlton und mehreren Spezialisten auf einer der Hilfsfähren der Gargantua an. Die Gruppe landete neben einer der neuen Spalten. Immer noch dampfte Nebel von den Wänden ab, der sich auf dem Boden der Spalte sammelte und diesen verdeckte. Die Radarmessungen ergaben für den Riss eine Tiefe von fast acht Kilometern.
»Sehen Sie sich das an!«, murmelte Amos Carlton, als er sich die gegenüberliegende Wand des Cañons besah. Unten, wo die Nebelschicht begann, waren dicke Gesteinsadern zu sehen, die sich über die ganze Länge der Spalte hinzogen.
»Ich schätze, das erklärt alles«, antwortete Thorpe. »Die Wissenschaftler hatten Recht. Irgendwie hat der Fels sich wie ein Druckableiter verhalten, und der Eispfropfen ist entlang der Ader gebrochen, als wir ihn anheben wollten.«
Der kleine Erkundungstrupp verbrachte die nächsten sechs Stunden damit, Eis-und Gesteinsproben für Analysen zu sammeln. Während dieser Zeitspanne federten sie vier heftigere Erdstöße ab und ein halbes Dutzend schwächere. Es war eine erschöpfte Gruppe, die sich zurück in ihr Schiff begab, als es über dem Krater wieder einmal Nacht wurde. Und noch müder war Tom Thorpe, als er zwei Stunden darauf die Schleuse Eins der Admiral Farragut passierte.
»Wie ist es passiert?«, fragte Amber, nachdem sie ihm einen Willkommenskuss gegeben hatte. Sie und Karin Olafson waren die Einzigen in der Schleusenkammer, ein Umstand, der ihn hätte misstrauisch machen müssen. Doch wie die Dinge lagen, nahm Thorpe ihre Gegenwart hin, ohne darüber nachzudenken.