KEIN HIMMELSKÖRPER GENÜGT DEN GENANNTEN KRITERIEN
Thorpe runzelte die Stirn. Er verlangte die Orbitalparameter der näheren Asteroiden und wurde an etwas erinnert, das er schon seit langem wusste. Seinem Namen zum Trotz bestand der Asteroidengürtel größtenteils aus leerem Raum. Die nächsten Kandidaten waren mehr als zehn Millionen Kilometer von der Flugbahn des Kometen entfernt. Diese Strecke war zu groß, um sie in nur sieben Monaten zu überbrücken.
Thorpe rieb sich die brennenden Augen und entschloss sich, es ein weiteres Mal zu versuchen. Er reduzierte seine Frage auf das absolute Minimum: »Welche Objekte befinden sich ausreichend nahe an der Flugbahn des Kometen, um sie unter Einsatz von nicht mehr als acht Kilogramm Antimaterie zur Kollision zu bringen?«
Die Antwort des Computers erfolgte augenblicklich: KP 17634 und KP 20681.
Thorpe starrte die Zahlen lange Sekunden ungläubig an. Denn obwohl sie Katalognummern aus dem Verzeichnis kleinerer Planeten waren, brauchte er sie nicht nachzuschlagen. Er erkannte sie sofort.
Es waren Avalon und der Felsen.
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Thorpe starrte lange Sekunden auf den Monitor, ohne die leuchtenden Ziffern, die er vor sich hatte, glauben zu können. Es war geradezu unglaublich. Aus allen Asteroiden des Sonnensystems hatte der Computer ausgerechnet die beiden ausgewählt, die er kannte. Irgendwie musste ihm beim Programmieren ein Schnitzer unterlaufen sein. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass der Computer hätte Gedanken lesen müssen, um diese Zahlen von ihm zu erfahren. Thorpe bewegte seine vor Erschöpfung unbeholfenen Hände zum Keyboard zurück und ließ das kurze Programm anzeigen, das er geschrieben hatte. Er brauchte nicht lange, um zu erkennen, was geschehen war.
Das Programm war dazu gedacht gewesen, in Frage kommende Asteroiden innerhalb des Asteroidengürtels herauszufinden. Als der Computer seine Frage zweimal abschlägig beantwortet hatte, hatte er die Frage der meisten Einschränkungen entkleidet. Dann hatte er den Rechner versehentlich im Verzeichnis kleinerer Planeten suchen lassen. Er hatte alle bekannten Asteroiden hinsichtlich ihrer zukünftigen Aufenthaltsorte relativ zu Donnerschlag überprüft. Dass die beiden einzigen ausgewählten Kandidaten eingefangene Asteroiden waren, war nicht so überraschend, wie er zunächst gedacht hatte. Bei näherem Nachdenken konnte es kaum anders sein.
Es gab annähernd 100.000 kleinere Planeten im Sonnensystem. In der Größe variierten sie von Ceres – zweifacher Durchmesser von Donnerschlag und zwanzigfache Masse – bis zu Gesteinsbrocken von nur zehn Metern. Die meisten befanden sich in einem breiten Gürtel zwischen Mars und Jupiter. Sie stellten das Material dar, aus dem sich ohne den Einfluss des Jupiter ein zehnter Planet hätte bilden können. Der Gürtel war eine Ringfläche von rund zwei Milliarden Kilometern Umfang und dreihundert Millionen Kilometern Dicke. Er war sehr dünn besiedelt.
Die schiere Größe des Gürtels war es, welche in der Vergangenheit die Versuche zum Asteroidenbergbau hatte scheitern und das Einfangen zur einzigen gangbaren Alternative gemacht hatte. Der erste Schritt jedes Einfangprogramms war es, die Orbitalebene des betreffenden Asteroiden der der Erde anzugleichen, ihn in die Ekliptik zu befördern.
Donnerschlag lief in der Ebene der Ekliptik um. Deshalb, erkannte Thorpe mit einiger Verspätung, war die Tatsache, dass er den Kometen von der Erde ablenken wollte, geradezu die Garantie dafür, dass das Programm solche Asteroiden auswählte, die sich bereits in der Ekliptik befanden. Dies traf für Avalon und den Felsen zu.
Befriedigt darüber, dass die Erschöpfung seinen Verstand nicht verrückt spielen ließ, verlangte Thorpe eine Darstellung von Avalons Umlaufbahn zusammen mit der Donnerschlags. Der Computer brauchte einige Sekunden, um den Asteroiden in die Simulation der New-Mexico-Arbeitsgruppe einzufügen. Während Thorpe beobachtete, wie Donnerschlag auf die Sonne zujagte, bemerkte er, dass dieser Avalon dabei in einem Abstand von einer Million Kilometern passierte. Das war nach den Maßstäben des Sonnensystems praktisch ein unmittelbares Zusammentreffen.
Thorpe fragte Avalons grundlegende Daten ab. Er wurde enttäuscht. Avalons Masse betrug etwas mehr als 1,5 Billionen Tonnen, das Fünffache der Masse des Felsens, aber nur die Hälfte dessen, was gebraucht wurde, um Donnerschlag zu verlangsamen. Nein, entschied er, das stimmte ebenfalls nicht. Drei Billionen Tonnen waren nötig, wenn die Kollision stattfinden sollte, zweihundert Tage bevor der Komet die Erde erreichte. Avalons Umlaufbahn lag innerhalb der der Erde. Wenn Avalon zum Einsatz kommen sollte, würde die Kollision nur achtzig Tage vor dem Tag null liegen. Um die gleiche Verzögerung zu erreichen, wäre eine Masse von acht Billionen Tonnen notwendig.
Die Hoffnung, die in ihm aufgekeimt war, war mit einem Mal an den Klippen der harten Realität zerschmettert. Es sah ganz danach aus, als ob ihm seine Phantasie einen Streich gespielt hätte.
Aus reiner Frustration griff Thorpe in die Kometensimulation ein und modifizierte das Programm so, dass es eine Kollision mit Avalon achtzig Tage vor dem Tag null simulierte. Anstelle eines Streiftreffers auf die Erde erwartete er, den Kometen genau in der Erdmitte auftreffen zu sehen. Er sah das goldene Kometensymbol um die Sonne herumschwingen und sich auf die Erde zubewegen. Während der Annäherung strich der ausgedehnte Schweif über die dem Untergang geweihte Erde. Das Bild begann zu verschwimmen. Nach sechzehn Stunden fühlten sich Thorpes Augen wie gekochte Zwiebeln an. Er rieb sie.
Als er wieder auf den Monitor schaute, hatte die Erde den Kollisionspunkt überquert und setzte ihre Reise um die Sonne unbehelligt fort. Thorpe blinzelte und blickte erneut hin. Er starrte weiter auf den Schirm, darüber nachgrübelnd, was er soeben entdeckt hatte. Dann speicherte er den File unter seinem persönlichen Sicherheitscode, anschließend schaltete er den Bildschirm aus. Durch seine Adern pulste Adrenalin, als er seine Beine unter dem Tisch hervorzog und sich abstieß. Ein paar Minuten später befand er sich in der Kommunikationszentrale des Schiffs. Er formulierte noch an der vertraulichen Mitteilung an seinen Boss herum, als er den verlassenen Raum betrat.
Wieder einmal, so schien es, war Halver Smith Hüter eines schrecklichen Geheimnisses.
Wenn Den Haag im Winter wunderschön war, so galt das für den Spätsommer erst recht. Smith schlenderte aus seinem Hotel und machte sich auf den Weg zum New Ridderzaal Tower, der rund zwei Kilometer entfernt lag. Während er unter den ausladenden Ästen von Linden und Ulmen einherschritt, sog er den Duft von Blumen ein. Selbst zu dieser späten Jahreszeit waren die Parks und Nebenstraßen der Stadt ein einziges Blütenmeer.
Er überquerte einen der zahlreichen Kanäle und betrat einen großen Park. Sobald er aus dem Schatten der Bäume herausgetreten war, konnte er den Hauptsitz des Systemrats in der Ferne aufragen sehen. Als er im Januar hier gewesen war, war das schwarze Gebäude nichts weiter gewesen als der Hauptsitz einer von mehreren supranationalen Organisationen. Seitdem war es faktisch zur Hauptstadt der Menschheit geworden. Wenn der Komet die Menschen an das Kooperieren gewöhnen konnte, könnte er sich letztlich als ein verkappter Segen erweisen, fand Smith.
Er gelangte zum neuen Sicherheitszaun, der das Gebäude umgab, und zeigte der Wache seinen Ausweis vor. Sogleich wurde er zu der weitläufigen Eingangshalle geleitet. Wie im Januar erwartete ihn auch diesmal eine Führerin. Er folgte ihr zu einem Lift und erreichte bald darauf das Büro der Chefkoordinatorin.
»Und wieder einmal ersucht der Mann aus Kalifornien um ein dringendes vertrauliches Gespräch über ein Thema, das er sich weigert zu nennen«, sagte Constance Forbin zur Begrüßung.