Die hefkoordinatorin saß an ihrem Schreibtisch und versuchte sich auf die vor ihr liegende Arbeit zu konzentrieren. Sie sah eine Reihe von Berichten durch, während sie auf Nachrichten von Luna wartete. Halver Smith hatte über sein Treffen mit Sandoval berichtet. Wenigstens das war gut verlaufen. Andere Berichte befassten sich mit den möglichen Folgen des Zusammenstoßes von Donnerschlag und Luna. Die Erde würde durch die Trümmer, die bei der Kollision entstünden, immer noch erheblich gefährdet sein. Einige Wissenschaftler schätzten, dass das in eine Mondumlaufbahn und weiter hinauf geschleuderte Material ein Prozent der Gesamtmasse des Mondes ausmachen würde! Was für ein kosmischer Witz wäre es doch, dachte sie, wenn sie den Kometen überlebten, nur um von einem Hagelschauer von Meteoren getötet zu werden.
Ihre Gedanken wurden durch das plötzliche Summen der Sprechanlage unterbrochen. »Ja?«
»Botschafter von Stiller aus Luna City ist am Apparat«, sagte ihre Sekretärin.
»Stellen Sie ihn durch!«
Auf Constances Bildschirm erschien das finstere Gesicht von Wilhelm von Stiller. Er blickte geradeaus mit dem starren Blick eines Mannes, der auf seine Verbindung wartet. Wenige Sekunden später kam Leben in sein Gesicht.
»Sind Sie es, Constance Forbin?«
»Ja, ich bin es. Wie ist die Lage, Herr Botschafter?«
Es dauerte eine weitere kleine Ewigkeit, bis sich von Stillers Schnurrbart in einem schwachen Lächeln hob. »Sie haben akzeptiert! Der Premierminister hat seine persönliche Zusicherung gegeben, dass Luna nicht intervenieren wird. Er bittet darum, so bald wie möglich ein Treffen anzuberaumen, um die Evakuierung vorzubereiten, falls sie sich als notwendig erweisen sollte.«
Constance gab einen tiefen Seufzer von sich. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie den Atem angehalten hatte. »Sehr schön, Herr Botschafter. Sagen Sie dem remierminister, dass wir unverzüglich mit dem Bau einer Evakuierungsflotte beginnen werden. Die von ihm gewünschte Konferenz wird innerhalb von zehn Tagen einberufen werden. Und übermitteln Sie ihm meinen persönlichen Dank. Er hat die richtige Entscheidung getroffen!«
32
Die Boden-Orbit-Fähre glitt auf ihren Deltaflügeln mit dreißigfacher Schallgeschwindigkeit durch die obere Atmosphäre. Als sie das Beinahevakuum hinter sich gelassen hatte, fluteten Plasmaströme in mehrfachen Schockwellen von Tragflächen und Rumpf. Die entstandenen Schockwellen bildeten ehrfachprismen, durch die hindurch die schwarze Küstenlinie Kaliforniens zu sehen war, die sich allmählich über den runden Horizont erhob. Nach einer Reise von sechzehn Monaten und zwei Milliarden zurückgelegten Kilometern kam Tom Thorpe endlich wieder nach Hause.
Thorpe saß in seinem Sitz und betrachtete durch das Fenster den blauen Pazifik, während die Fähre aus der tiefen Schwärze des Raums hinunterfiel. In seiner Innentasche befand sich eine Nachricht mit der knappen Bestätigung seiner Ernennung zum stellvertretenden Direktor der kürzlich gebildeten Arbeitsgruppe Avalon. Diese Nachricht symbolisierte, wie so vieles andere, die jüngsten Veränderungen in Thorpes Leben. Er hatte die Erde als Leiter einer unbedeutenden Expedition zur Erforschung eines verirrten Kometen verlassen. Er kehrte zurück als der Retter der Erde.
Thorpe war in den Wochen nach Bekanntgabe der Avalon-Option in den Massenmedien gefeiert worden. An Bord der Admiral Farragut hatte er, während der Frachter auf die Erde zustürzte, beinahe täglich Interviews geben müssen. Zuerst waren die Interviews Computersimulationen gewesen, ähnlich jener, in deren Verlauf Amber dem Kometen unabsichtlich seinen populären Namen gegeben hatte. Später dann, als der Frachter in eine für eine wechselseitige Verständigung erforderliche Distanz gekommen war, hatten die Nachrichtenleute darauf bestanden, live mit ihm zu sprechen. Einige ihrer Charakterisierungen waren geeignet gewesen, ihn erröten zu lassen, und Thorpe errötete nicht leicht.
Trotz der Ernennung war Thorpe weit entfernt davon, glücklich zu sein. Denn wenn seine Entdeckung, dass Avalon dazu benutzt werden konnte, Donnerschlag aufzuhalten, ihm auch systemweite Anerkennung eingebracht hatte, so hatte sie ihn doch das eine gekostet, was ihm das Wichtigste im Leben war: Amber!
Ihre Beziehung hatte sich von Avalon nicht wieder erholt. Amber versicherte zwar, ihm keine Vorwürfe zu machen, doch es war ihr unmöglich, ihre Gefühle von dem Schmerz zu trennen, den die Zerstörung Lunas in ihr hervorrief. Auch die Enttäuschung darüber, keine akzeptable Alternative finden zu können, hatte dazu beigetragen. Amber und nahezu jeder andere Astronom und Astrophysiker im Sonnensystem hatten zwei Monate lang nach einer solchen Alternative gesucht.
Die fruchtlose Suche hatte ihre Auswirkungen auf die Stimmung an Bord des Frachters gehabt. Amber hatte eine Zeit lang mit niemandem mehr gesprochen. Das Gleiche galt für Cragston Barnard und Professor Chen. Während Simulation nach Simulation zu negativen Ergebnissen führte, wurden alle drei immer mürrischer und zogen sich in sich zurück. Gleich welchen Ansatz sie ausprobierten, es lief stets auf zu wenig Ressourcen oder zu wenig Zeit hinaus.
Die Admiral Farragut hatte die Erde zwölf Wochen nach ihrem Start vom Kometenkern erreicht. Wenige Stunden vor Erreichen des Parkorbits hatte Thorpe Amber aufgesucht. Er traf sie in ihrer Kabine beim Packen an.
»Hallo, darf ich reinkommen?«
»Natürlich«, sagte sie, ihm matt zulächelnd. Die Enttäuschung der letzten Wochen hatte ihre Spuren bei ihr hinterlassen. Ihr Gesicht war angespannt, die Augen wirkten eingesunken und waren von Ringen umgeben. Sie schien eine ganze Reihe von neuen Sorgenfalten bekommen zu haben.
»Wie ich höre, gehst du nach Luna zurück.«
Sie nickte. »Ich habe gestern eine Nachricht von Niels Grayson bekommen. Er möchte, dass ich wieder zum Observatorium zurückkomme. Er hat auch Cragston Barnard eine Stellung angeboten.«
»Warum zurückgehen?«
»Sie haben nicht genug qualifizierte Leute. Sie werden den Kometen während seines Zusammenstoßes mit Avalon beobachten und dann noch so lange wie möglich, bis er hinter der Sonne verschwindet.«
»Warum das?«
»Niels will versuchen, das Große Auge zu retten. Das Teleskop besitzt vierhundert der präzisesten optischen Spiegel, die jemals hergestellt wurden. Sie stellen ein unersetzliches wissenschaftliches Hilfsmittel dar. Wenn wir es schaffen, sie von Luna wegzubringen, dann können wir das Instrument im Erdorbit wieder zusammensetzen.«
»Ist es das, was du wirklich willst?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Crag und ich haben die letzten Wochen über nichts gefunden, womit wir Luna retten könnten. Vielleicht können wir wenigstens etwas vor dem Fiasko bewahren.«
»Und was ist mit uns?«, fragte Thorpe. »Können wir bewahren, was zwischen uns war?«
Die Qual stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, als sie ihn ansah. »Unsere persönlichen Probleme sind nicht besonders wichtig im Moment, oder?«
»Sie sind wichtig für mich.«
»Und für mich, Thomas. Aber ich kann doch nicht gut das Observatorium aufgeben, oder? Ich fühle mich für all das verantwortlich.«
»Niemand ist verantwortlich. Das wäre auch passiert, wenn du nie geboren worden wärst.«
In diesem Moment brach ihre elbstbeherrschung zusammen. »Ich weiß das«, schluchzte sie. »Aber ich kann nichts dafür, dass ich so empfinde. Ich muss irgendetwas tun. Niels Vorhaben, das Große Auge zu retten, ist wichtig. Ich möchte daran beteiligt sein.«
»In Ordnung«, sagte er. »Ich werde dich begleiten.«
»Du musst deine neue Stellung antreten. Ich verabscheue die Avalon-Option. Dennoch sagt mir mein Verstand, dass es die einzige Chance für die Menschheit ist. Wie wäre dir zumute, wenn etwas schiefginge, etwas, das du hättest verhindern können?«