»Er wird halten. Avalon ist beinahe reines Nickeleisenerz, ohne größere Defekte oder Verwerfungen.«
Der Plan, Avalon in Donnerschlags Weg zu platzieren, erforderte den Verbrauch von sechs Kilogramm Antimaterie in sechs Monaten. Das war das Fünffache des Normalen. Die vorhandene Brennkammer des Asteroiden war zu klein für die Energiemenge, die dabei freigesetzt werden würde. Jeder Versuch, sie auf diesem Niveau zu betreiben, würde zu einer Explosion führen. Anstatt die vorhandene, hochradioaktive Kammer zu erweitern, sollte eine neue Brennkammer gebaut werden. Genau genommen sollten sogar drei installiert werden. Zwei von ihnen würden voll funktionsfähige Ersatzkammern sein, die für den Fall, dass die erste Kammer ausfallen sollte, sofort einsatzbereit wären.
Callas und seine Leute hatten den letzten Monat damit verbracht, geeignete Bohrorte zu überprüfen. Nach dem Fehler, der mit dem Ground-Zero-Krater passiert war, wollte niemand mehr etwas dem Zufall überlassen.
»Wann werden wir mit dem Schub beginnen können?«, fragte Wassilowitsch.
Callas zuckte mit den Achseln. »Nach allem, was ich von Ihrer Ausrüstung gesehen habe, müsste die erste Kammer in einer Woche bis in zehn Tagen ausgehöhlt sein. Dann dauert es noch eine Woche, die Injektionsschächte zu bohren, die Fokussierungsringe zu installieren und die Kontrollgeräte zu kalibrieren. Sie müssten in drei Wochen so weit sein.«
»Wir werden wohl schneller sein müssen«, sagte Wassilowitsch. »Der Boss schmiert mich sonst auf sein Butterbrot.«
»Vielleicht können Ihnen meine Leute helfen.«
»Wie?«
»Wir können die alten Schubtürme überholen und die neuen bauen, die Sie benötigen. Auf diesen Gebieten haben wir mit Sicherheit genug Erfahrung.«
»Hört sich gut an. Ich werde mit dem Boss drüber sprechen.«
Avalons Rotation unter Kontrolle zu bekommen, war die erste Aufgabe gewesen, mit der sich Callas und seine Männer auf dem Asteroiden konfrontiert gesehen hatten. Mit einer Rotationsperiode von acht Stunden war der Asteroid zu umständlich zu handhaben gewesen. Um die Rotation zu stoppen, hatten sie überdimensionale Korrekturtriebwerke auf stabile Türme montiert. Ein Jahr kontinuierlichen Schubs war nötig gewesen, bis die Rotation des Asteroiden zum Erliegen gekommen war. Auch jetzt wurden die Manövrierdüsen noch gelegentlich gezündet, damit Avalon seine Ausrichtung beibehielt.
Um Donnerschlag erfolgreich den Weg abzuschneiden, würde jedoch mehr als ein gelegentlicher Schubstoß nötig sein. Avalon würde selbtständig gesteuert werden müssen, um ihn innerhalb von sieben Monaten in der Flugbahn des Kometen zu platzieren. Kurskorrekturen würden in Abständen von Stunden und nicht mehr von Wochen vorgenommen werden. Dies wiederum brachte es mit sich, dass die vorhandenen Triebwerkstürme überholt und zahlreiche zusätzliche installiert werden mussten.
Wassilowitsch wandte sich um und beobachtete, wie ein großer Apparat von der Hülle der Gargantua losgemacht wurde. Das Entladen klappte hier nicht so zügig wie auf Donnerschlag, aber sie kamen voran.
»Da kommt die Energieversorgung«, sagte er. »Wenn Sie mich nun entschuldigen, ich muss wieder an die Arbeit.«
Callas beobachtete, wie die Gestalt über die Nickel-Eisen-Ebene davoneilte, die sich zusehends in einen Schrottplatz verwandelte. Während er Wassilowitsch sich entfernen sah, überkam ihn Traurigkeit. Vor drei Stunden war er noch der unumschränkte Herrscher über diese winzige Welt gewesen. Damit war es nun vorbei. Wenn das Auftreten des Neuankömmlings auch respektvoll gewesen war, so hatte es Callas doch klargemacht, dass seine Stellung nun die eines interessierten Zuschauers war. Eine Epoche in der Geschichte von Avalon war zu Ende gegangen. Eine neue hatte begonnen.
Tom Thorpe hatte vorgehabt, nach seiner Rückkehr zur Erde einige Wochen Urlaub zu machen, bevor er seine Arbeit an Bord der Newton-Station aufnahm. Constance Forbin hatte jedoch andere Pläne. Er hatte sich kaum von seinem Flug erholt, als die Koordinatorin anrief, um ihn zu einer Konferenz einzuladen, die an der Sorbonne abgehalten wurde, um die Evakuierung Lunas zu diskutieren. Die Zusammenkunft sollte Teil einer ausgedehnten Public-Relations-Kampagne sein, um die Lunarier davon zu überzeugen, dass es die Erde mit ihren Zusagen ernst meinte. Was Thorpe betraf, so hatte er persönliche Gründe, die ihn hoffen ließen, dass der Evakuierung Erfolg beschieden war. Er sagte zu, und drei Tage darauf befand er sich in Paris. Trotz seines Status als ›Aushängeschild‹, vertiefte er sich rasch in das Problem, die ganze Bevölkerung einer kleinen Welt zu evakuieren.
Die Menschen von Luna fortzuschaffen war nicht das einzige Problem. Schon ihr Transport zu den drei bedeutenderen Raumhäfen Lunas würde den Einsatz aller verfügbaren Bodenfahrzeuge und Orbitalfähren Lunas erfordern. Die meisten Bewohner abgelegener Siedlungen mussten mittels Rolligon oder MoonJumper zur nächstgelegenen Haltestelle der Einschienenbahn gebracht werden. Von dort aus würden sie nach Luna City, Tycho Terrace oder zum Mare Crisium transportiert werden. Einmal in den Raumhäfen eingetroffen, würden sie untergebracht, verpflegt und versorgt werden müssen, bis Boden-Orbit-Fähren sie zu den Schiffen bringen konnten, mit denen sie zur Erde fliegen würden.
Das letztere Problem war der Grund, warum die Konferenz einberufen worden war. Erste Simulationen hatten ergeben, dass, wenn jedes vorhandene Raumfahrzeug für die Evakuierung von Luna eingesetzt werden würde, es siebzig Prozent der Bevölkerung nicht rechtzeitig schaffen würden, ihre Welt zu verlassen. Offensichtlich musste man sich etwas Neues einfallen lassen.
Ein durchschnittliches menschliches Wesen maß 180 mal 60 mal 30 Zentimeter. Wenn man die Menschen also wie Holzscheite stapeln könnte, würde jeder leicht in einen Kasten von zwei Metern Länge und einem Quadratmeter Grundfläche hineinpassen. Zwei Kubikmeter pro Person waren annähernd das bewohnbare Volumen der ersten Raumkapseln gewesen. Und manche der frühen Astronauten hatten, wie ein Experte ausführte, Wochen im Orbit zugebracht, nicht nur die wenigen Tage, die eine Reise vom Mond zur Erde dauerte. Folglich war es theoretisch möglich, die ganze Bevölkerung Lunas in einem Kugelvolumen von dreihundertfünfzig Metern Durchmesser unterzubringen!
Mit diesem unerreichbaren Minimum im Hinterkopf, formulierte die Konferenz ihre Pläne. Es blieb keine Zeit, irgendwelche neuen Schiffe zu bauen. Zum Glück waren früher einmal acht riesige Frachtschiffe zwischen dem Mond und den Raumkolonien gependelt. Drei von ihnen waren bereits bei Donnerschlag und Avalon eingesetzt, aber die verbleibenden fünf befanden sich in einem Parkorbit.
Mit einem Durchmesser von hundertfünfzig Metern war jeder Frachter groß genug, um pro Flug 300.000 Menschen zu transportieren. Bei dieser Packungsdichte konnten die Schiffe weder komfortabel sein noch nennenswerte Versorgungseinrichtungen bieten. Für jeden Passagier würden eine flache Koje und die allernotwendigsten Lebenserhaltungssysteme bereitgestellt werden. Um den Platz für die menschliche Fracht zu erhöhen, mussten die alten chemischen Triebwerke ausgebaut und die Wasserstoff-und Sauerstofftanks in Stauraum umgewandelt werden. Die Frachter würden durch Raumschlepper bewegt werden. Die Evakuierungsschiffe würden nur notdürftig bewohnbar sein, übelriechend und eine Hölle der Klaustrophobie. Davon abgesehen, würde jedes Schiff auf einem einzigen Flug bis zu drei Prozent der Bevölkerung Lunas aussiedeln können. Einmal im Erdorbit angelangt, würden sie auf eine Flotte von Shuttles treffen. Diese würden ebenfalls überfüllt sein, doch der Flug zur Erde hinunter würde Gott sei Dank nicht lange dauern.
Während die Arbeitsgruppen der Konferenz unentwegt beratschlagten, nahm der Umbau der Evakuierungsschiffe allmählich Gestalt an. Während die endlosen Sitzungen weitergingen, wurden Werftingenieure über den entwickelten Evakuierungsplan informiert. Man gab ihnen grobe Skizzen, die sie zur Anfertigung detaillierter Computerzeichnungen der notwendigen Modifikationen benutzten. Gegen Ende der zweiten Woche hatten die Arbeiten zum Umbau des ersten Evakuierungsschiffs begonnen.