Die Koma war so groß wie von der Erde aus gesehen ein halbes Dutzend Vollmonde. Irgendwo in diesem Ball lauerte, wie Walter wusste, ein fünfhundert Kilometer durchmessender Asteroid. Donnerschlag würde hinter dem Schleier der Koma bis unmittelbar vor dem Moment des Zusammenstoßes verborgen bleiben. Selbst dann würde er sich noch bedeutend schneller als eine Gewehrkugel nähern, viel zu schnell für das menschliche Auge. Doch die Instrumente würden seine Annäherung aufzeichnen. Sie würden auch die folgende Katastrophe festhalten.
»Fertig zum Start, Mr. Wassilowitsch«, meldete sein Pilot über Helmfunk.
»Danke, Pierce. Warten Sie noch, bis ich mit den letzten Kontrollen fertig bin.«
Wassilowitsch bewegte sich über die Nickel-Eisen-Ebene und betrat die mit Atmosphäre ausgestattete Nissenhütte, die er und seine Männer so gewissenhaft errichtet hatten. Die Hütte war eine von insgesamt dreien. Obwohl sie immer noch atembare Luft enthielt, verzichtete er darauf, seinen Helm abzusetzen. Stattdessen sah er ein letztes Mal nach den Geräten, die über die Vernichtung der winzigen Welt berichten würden, auf der er stand.
Überall auf Avalon waren Kameras und Radarantennen in den Himmel gerichtet, um die Annäherung des Kerns zu beobachten. Andere Instrumente wiederum waren tief im Nickel-Eisen-Herzen von Avalon begraben. Solange es sie gab, würden sie die ersten Millisekunden von Avalons Auseinanderbrechen aufzeichnen. Die Instrumente auf Avalon waren jedoch nicht die einzigen, die das Ereignis beobachteten. Die Mannschaft der Godzilla hatte die letzten Wochen damit verbracht, Donnerschlag mit Instrumenten auszustatten. Man hoffte, dass zumindest einige der auf der dem Aufschlagpunkt gegenüberliegenden Seite des Kerns angebrachten Trägheitssensoren die Kollision überstehen würden. Falls sie es taten, würde die Menschheit durch sie die erste direkte Bestätigung bekommen, ob sie Donnerschlags Flugbahn erfolgreich geändert hatten oder nicht.
Wassilowitsch machte einen letzten Rundgang durch den Kontrollraum und vergewisserte sich, dass sich alles an seinem Platz befand, eingeschaltet war und funktionierte. Er überprüfte die in dreifacher Ausfertigung vorhandenen Batterien und die Kabelverbindungen. Er überzeugte sich davon, dass alle Anzeigen auf Grün standen und dass das Überwachungssystem keine Ausfälle anzeigte. Schließlich überprüfte er die Verbindung zwischen seinem Kontrollraum und den beiden anderen. Als er alles kontrolliert hatte, wandte er sich zum Gehen. Als er die Luftschleuse betrat, griff er zum Schalter, um die Deckenbeleuchtung abzustellen. Die Tür hatte sich fast schon hinter ihm geschlossen, als er wegen seines Tuns in sich hineinzulachen begann. Sie waren im Begriff, diese Miniaturwelt zu vernichten, und er versuchte immer noch, Energie im Wert von ein paar Pfennigen zu sparen.
Der Mensch ist halt ein Gewohnheitstier.
Halver Smith streckte sich auf dem Vordeck der Sierra Seas aus und legte seinen Kopf in den Schoß seiner frischgebackenen Ehefrau. Er setzte ein elektronisches Weitwinkelfernglas an und suchte den Himmel ab. Es war eine Stunde vor Tagesanbruch, und über ihm waren die Sterne kalte blauweiße Lichtpunkte. Am östlichen Horizont zeigte sich die erste Andeutung von Farbe als Vorbote des Sonnenaufgangs.
»Dort ist er«, sagte er, mit einer Hand auf einen niedrigstehenden Flecken im Südosten deutend.
Barbara Martinez wandte sich vom Holoschirm ab, an dem sie sich zu schaffen gemacht hatte. Sie folgte dem Finger, bis sie den milchig weißen Lichtfleck am Himmel gefunden hatte.
»Ich sehe ihn«, sagte sie. »Er ist schrecklich schwach. Wie sollen wir ihn später finden, wenn uns die Orientierungspunkte fehlen?«
»Wir orientieren uns an den Sternen«, antwortete Smith. »Siehst du diese beiden hellen dort rechts? Der Komet liegt auf der imaginären Verbindungslinie zwischen ihnen, zwei Sternentfernungen links von dem helleren rötlichen.«
»Ich hab’s«, sagte sie, bevor sie sich wieder dem Einstellen des Fernsehers zuwandte. Sie hatten den Monitor mit aufs Deck genommen, um ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Himmel und der Liveübertragung aus dem Weltraum zu teilen. Am Heck der Yacht war eine Antenne auf Commstat Zwei ausgerichtet. Obwohl sie ihn bereits früher in der Woche kontrolliert hatten, hatte der Empfänger periodische Ausfälle gehabt, seit sie San Francisco am Vorabend verlassen hatten. Die Senderjustierung hatte sich verändert, während die Yacht in der schwachen Dünung rollte. Smith hatte es schon so gut wie aufgegeben, ihn reparieren zu wollen, als Barbara das TV-Gerät zum Laufen brachte. Seit zwanzig Minuten war sie damit beschäftigt. Im Moment hatte sie das Programm eingestellt, das live von der Newton-Station aus berichten sollte.
»Guck mal!«, rief sie. »Da ist Tom Thorpe!«
Smith verlagerte seine Aufmerksamkeit vom Himmel zum Bildschirm. Dort war Thorpe zu sehen, der neben einem bekannten Holo-Reporter saß. »Stell den Ton ein. Hören wir uns an, was er zu sagen hat.«
Thorpes Stimme tönte aus dem Lautsprecher. »… Das ist richtig, Brad. Wir werden fast augenblicklich sagen können, ob es mit der Kollision geklappt hat. Wir haben Trägheitssensoren auf der Rückseite von Donnerschlag. Sie werden uns einen präzisen Wert der Veränderung des Geschwindigkeitsvektors übermitteln. Wenn wir den erst einmal haben, wird es eine relativ leichte Aufgabe sein, den Aufschlagsort auf Luna vorauszuberechnen.«
»Wie ich höre, machen sich die beteiligten Wissenschaftler um das Überleben dieser Sensoren Sorgen.«
Thorpe nickte. »Wenn Avalon auftrifft, wird es eine entsetzliche Erschütterung geben! Sie haben bestimmt den Ground-Zero-Krater gesehen. Der Aufprall, bei dem dieser Krater entstanden ist, war weniger heftig als der, den herbeizuführen wir im Begriff sind. Es besteht die Möglichkeit, dass die Erschütterung unsere sämtlichen Instrumente aus der Verankerung reißt. Aus diesem Grund setzen wir so viele redundante Systeme ein und treffen so zahlreiche Vorkehrungen, um sie zu schützen.«
»Aber wenn diese Vorkehrungen nun nichts nützen? Wenn alle Ihre Sensoren zerstört werden?«
»Dann werden wir gezwungen sein, auf visuelle Beobachtungen und Radarmessungen zurückzugreifen, um die neue Flugbahn von Donnerschlag zu bestimmen. Das würde ein paar Tage länger dauern, würde aber problemlos funktionieren …«
Barbara streckte die Hand aus und fuhr damit ihrem Mann durch das dünner werdende Haar. »Gott sei Dank ist mir das erspart geblieben!«
»Was?«
»Ich war als Mediensprecher für das Projekt Avalon vorgesehen«, erklärte sie. »Das war, bevor du mich gerettet hast. Sie haben mir nur deshalb erlaubt, mich zu drücken, weil sich der arme Tom bereit erklärt hat, meinen Platz einzunehmen.«
»Erinnere mich daran, dass ich ihm eine Gehaltserhöhung gebe«, sagte Smith mit einem leisen Lachen. »Ich glaube, das ist nach vier Wochen erheiratetsein jetzt die erste Woche, die wir ganz für uns haben.«
Die Hochzeit von Halver Smith und Barbara Martinez war in einem Büro der Newton-Station vollzogen worden. Die ganze Hochzeitsgesellschaft hatte aus Braut und Bräutigam, Tom Thorpe als Trauzeugen und einer von Barbaras Kolleginnen als Brautjungfer bestanden. Es war nicht unbedingt das, was man sich von der Hochzeit eines der zehn reichsten Männer des Sonnensystems erwartet hätte. Die Flitterwochen hatten zwei Tage gedauert, die sie in der teuersten Suite der Hotelsektion der Station zugebracht hatten. Anschließend war Barbara wieder an ihre Arbeit am Projekt Avalon zurückgekehrt und Smith zu den Pflichten, die ihn auf der Erde erwarteten. Seitdem hatten sie einander nur gelegentlich gesehen.
»Wie lange noch?«, fragte sie, nachdem sie Thorpe mehrere weitere Fragen hatte beantworten sehen.
Smith sah auf seine Armbanduhr. »Noch zwölf Minuten.«
Trotz der leichten Jacke, die sie trug, kuschelte sie sich in der morgendlichen Kühle, die hier vor der Küste herrschte, eng an ihn, um sich zu wärmen. Während sie den Bildschirm beobachtete, fragte sie sich, ob es damals beim Warten auf die erste Mondlandung auch so gewesen war.