»Für mich auch. Ich wünschte nur, es würde alles nicht so enden.«
»Guck mal«, sagte Nina und deutete mit ihrer behandschuhten Hand nach Südosten. Er wandte sich um. Ein stetiger stecknadelgroßer Lichtpunkt war plötzlich tief am Himmel aufgetaucht.
»Absolut pünktlich«, murmelte Thorpe.
Das Schiff war eines von einem halben Dutzend, die zwischen der Erde und dem Felsen pendelten. Größtenteils transportierten sie Antimaterie-Ringspulen und andere unentbehrliche Güter. Mit diesem Schiff wollte Thorpe seine Reise nach Luna beginnen. Wenn er alle Anschlüsse rechtzeitig erreichte und sein Glück anhielt, würde er volle dreißig Tage vor dem Ende auf dem Luna City Spaceport landen, was ihm mehr als genug Zeit lassen würde, seine widerspenstige Verlobte zum Verlassen ihrer zum Untergang verurteilten Welt zu überreden.
»Ich werde dich vermissen, wenn du nicht mehr da bist«, sagte Nina neben ihm, während sie zum Feuerschein der Triebwerke hochstarrte.
»Da ist halt etwas, das ich tun muss.«
»Ich weiß.« Ihr Tonfall ließ Thorpe sich in ihre Richtung wenden. Sie gingen aufeinander zu und umarmten sich, kein leichtes Unterfangen in einem Raumanzug. »Sei vorsichtig, Tom, und komm wohlbehalten zurück.«
»Das werde ich.«
Sie wandten sich um und gingen zur Schleuse zurück, durch die sie zu den unterirdischen Wohnanlagen des Felsen gelangen würden. Thorpe musste noch in letzter Minute packen.
36
Das Evakuierungsschiff Preserver war ein großer, geräumiger Viehstall von Schiff, dessen Geruch am besten als unbeschreiblich zu beschreiben war. Da es sich auf der Erde-Mond-Route befand, waren weniger als fünfhundert Passagiere an Bord. Für die Preserver war das eine Rumpfbelegung.
Kapitän Jesus García-Gomez war ein großer, freundlicher Mann, der gar nicht erst zu verbergen suchte, was er von Thorpes Wunsch hielt, sich nach Luna befördern zu lassen. Der Kapitän, der bis jetzt fünf Evakuierungsflüge gemacht hatte, hielt jeden, der in die entgegengesetzte Richtung wollte, für verrückt. Er hatte Thorpes Transportgenehmigung sogar so lange zurückgewiesen, bis Halver Smith bei den zuständigen Autoritäten persönlich interveniert hatte. Selbst als alle Genehmigungen vorlagen, hatte Thorpe die Columbus-Station erst verlassen dürfen, nachdem man ihn eindringlich gewarnt hatte, dass er Luna nur dann würde wieder verlassen können, wenn ›Transportraum‹ verfügbar wäre.
Kapitän García-Gomez begrüßte seinen Ehrengast an der Luftschleuse und machte mit ihm einen kurzen Rundgang durchs Schiff. Sie begannen mit einem der großen Stauräume, der bis vor kurzem einer der Flüsigsauerstofftanks der Preserver gewesen war. Die Kojen waren in langen Reihen vom Boden bis zur Decke zu zehnt übereinandergestapelt. Die individuellen Kojen waren durch rote Begrenzungslinien markiert. Bei voller Belegung, erkannte Thorpe, würden die Passagiere mit den Köpfen an die Füße der nächsten Reihe stoßen, und die Ellbogen würden an den Grenzlinien überlappen.
»Muss ganz schön laut sein hier drin, wenn Sie voll belegt sind«, sagte er zum Kapitän.
»Laut, heiß, stickig und schmutzig«, bestätigte García-Gomez. »Am schlimmsten ist die andauernde Kotzerei. Egal welche Vorkehrungen an Bord getroffen werden, in jedem Stauraum gibt es mindestens einen Idioten, der sein Antibrechmittel nicht eingenommen hat. Kaum dass wir sie festgeschnallt haben, geben sie ihr Essen auch schon wieder von sich und bringen praktisch jeden in dem Fach dazu, es ihnen nachzumachen. Das ist, falls es Ihnen noch nicht aufgefallen ist, der Hauptgrund für den Geruch. Die Schotts sind praktisch mit den Mageninhalten der Passagiere gesättigt.«
Thorpe hatte den Geruch erkannt, hatte jedoch versucht, möglichst wenig an dieses Thema zu denken.
»Falls Sie Geld zu viel haben, haben Sie vielleicht Lust, sich an der Mannschaftswette zu beteiligen.«
»Was für eine Wette?«
»Jedes Crewmitglied versucht zu schätzen, wie viele Kinder während jedes Flugs zur Welt kommen. Falls Sie Interesse haben, die Statistiken unserer früheren Flüge hängen in der Messe.«
»Ich nehme an, es sind eine ganze Menge.«
»Mehr, als man erwartet und wofür man Vorkehrungen getroffen hatte«, bestätigte der Kapitän. »Ich weiß nicht, was die Frauen bei einer Raumreise Wehen bekommen lässt. Aber bei 300.000 Passagieren kann man sich auf zwei Dinge verlassen: ein paar der Alten werden sterben, und eine erkleckliche Anzahl von Babys wird sich gerade diesen Zeitpunkt aussuchen, um geboren zu werden. Bei der Landung haben wir immer mehr Passagiere an Bord als beim Start.«
Das Schiff startete von der Erde, zwei Stunden nachdem Thorpe an Bord gekommen war. Weil es keine eigenen Triebwerke besaß, wurde es von einem Raumschlepper auf Fluchtgeschwindigkeit beschleunigt. Drei Tage später trafen sie sich hinter dem Mond mit einem gleichartigen Schlepper. Er dockte an und verlangsamte ihre Fahrt, bis sich die Preserver in einem hohen Parkorbit befand. Wie ein Crewmitglied bemerkte, waren die Schlepper Teilnehmer eines Distanzspiels, bei dem die Evakuierungsschiffe die Rolle von Gummibällen spielten.
Der Schlepper löste sich erst von der verstärkten Druckhülle der Preserver, als sie die ersten Boden-Orbit-Fähren umschwärmten. Ein Dutzend von ihnen machten gleichzeitig an den Mehrfachschleusen des Schiffes fest. Unverzüglich begannen sie damit, ihre menschliche Fracht in den umgebauten Schüttgutträger zu ergießen.
»Nun, Mr. Thorpe«, sagte Kapitän García-Gomez, als er vor einer der Schleusen Thorpes Hand schüttelte, »ich glaube immer noch, dass Sie verrückt sind. Sollte ich jedenfalls zufällig im Orbit sein, wenn Sie sich entschließen, zurückzufliegen, dann achten Sie darauf, dass Sie an Bord eines Shuttles der Preserver gehen. Ich werde einen Platz für Sie finden, und wenn ich meine eigene Kabine mit Ihnen teilen müsste.«
»Danke, Captain. Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen. Wer weiß, vielleicht komme ich noch darauf zurück!«
Damit hob Thorpe seine Reisetasche und seinen Raumanzug auf. Als er sich umwandte und sich in Richtung der Schleuse abstieß, durch die sich eine Menschenmenge in das Schiff ergoss, kam er sich vor wie ein Lachs, der flussaufwärts schwamm, um zu laichen.
Luna City Spaceport war im Wesentlichen so, wie er ihn in Erinnerung hatte. Der große Massebeschleuniger erstreckte sich immer noch pfeilgerade über die Mondebene, und die unterirdischen Abfertigungshallen waren immer noch wie die Speichen eines Rades um die Oberflächenkuppel der Haupthalle herum angeordnet. Was anders war, das war die Anzahl der Menschen, die sich im Bereich des Raumhafens drängten.
Wo er auch hinsah, warteten Evakuierwillige darauf, dass sie an die Reihe kamen, an Bord zu gehen. Zum ersten Mal begann Thorpe die Logistik zu verstehen, die nötig war, um zehn Millionen Menschen von einem Planeten fortzubringen. Schreiende Babys, Kinder, die sich verlaufen hatten, und grimmig dreinschauende Eltern erwiderten seinen Blick, als er sich mit den Ellbogen einen Weg zu den unteren Ebenen und den Beförderungsmitteln bahnte.
Die U-Bahnwagen waren in seiner Richtung fast leer. Da er zwölf Stunden totzuschlagen hatte, bis ihn der gecharterte MoonJumper nach Hadley’s Crossroads bringen würde, hatte er ein Zimmer im gleichen Hotel wie bei seinem vorigen Aufenthalt gemietet. Erst als er den Großen Verteiler erreicht hatte, wurde ihm klar, wie weit die Evakuierung bereits fortgeschritten war. Was einmal das betriebsame geschäftliche und kulturelle Zentrum Luna Citys gewesen war, lag nun beinahe verlassen da. Elegante Geschäfte hatten geschlossen, die Schaufenster noch voller Ware. Die wenigen Cafés, die noch geöffnet hatten, waren Treffpunkte der Alten. Er konnte ihre Augen auf sich gerichtet fühlen, als er die Rampe zu seinem Hotel hinunterging. Beim Einchecken erkundigte er sich beim Empfangschef nach ihnen.