Er hielt sich in dem Moment nicht mehr für einen kleinen Jungen, der unter ständiger Beobachtung stand, sondern für einen mutigen Regressor …
Ich widersprach ihm nicht. Ich fing jetzt an zu erzählen, wie ich ihre Welt wahrgenommen hatte, zunächst mit den Augen Nik Rimers, der sein Gedächtnis verloren hatte, später mit denen des Menschen Pjotr Chrumow.
Die Kinder fingen an herumzuzappeln.
Wahrscheinlich war ich grausam. Aber wenn der Tumor wuchert, muss man zum Chirurgen.
»Bei uns hat es auch Konzentrationslager und Gefängnisse gegeben. Es … es gibt sie sogar immer noch. Aber wir nennen sie nicht Sanatorium.«
»Aber was soll man denn tun, wenn ein Mensch krank ist? Wenn er böse ist? Wenn er andere stört, wenn er sogar zu einem Mörder werden kann? Wir sind nicht mehr so klein, wir wissen, dass es so was gibt!«, rief Till, der mir fest in die Augen blickte.
»Dann soll man es nicht Krankheit nennen«, antworte ich bloß.
Ich erzählte von den Wendigen Freunden, die unterschiedslos auf Fische wie auf Menschen Jagd machten. Mit einem runden Dutzend Sätzen legte ich das rosafarbene Gebäude der Freundschaft, das die Ausbilder so mühevoll errichtet hatten, in Schutt und Asche. Bis ich sah, dass ich damit allmählich aufhören sollte. Till hatte schon wieder feuchte Augen, dem unerschütterlichen Fal zuckte das eine Lid.
Ich bin kein Chirurg. Es spüre selbst den Schmerz.
Schließlich kam ich auf den Schatten zu sprechen. Den Verrat meiner Freunde ließ ich aus, das ging letztlich nur uns etwas an. Ich erzählte von der unendlichen Kette von Welten, von Welten, in denen man Krieg führte, von Welten, in denen die Liebe herrschte, von Welten, in denen man Ackerbau betrieb … sich in der Nase bohrte … Erbsen zählte … eine unverständliche Wahrheit verstand …
»Man kann alles machen, was man sich wünscht?«, fragte Grik.
»Genau.«
»Und wenn es das, was ich möchte, nirgends gibt?«
Die Frage klang nicht so, als sei sie völlig aus der Luft gegriffen. Ich antwortete so überzeugt wie möglich. »Dann wird sich etwas Ähnliches finden. Oder … eine leere Welt. Für dich ganz allein.«
»Für mich allein, das will ich nicht …«, antwortete Grik finster. »Aber so wie es sich anhört, ist dieser Schatten gar nicht mal schlecht.«
»Er ist nicht schlecht und nicht gut. Er ist …«Mit einem Mal fand ich ein treffendes Bild. »Er ist ein Filter. Genau wie in eurer Kanalisation. Nur ist der Filter bei euch für den Müll, während im Schatten die Tore als Filter für Menschen dienen. Sie wissen sofort, wer wohin muss. Wer was braucht. Sie sieben die Menschen durch und verteilen sie, der eine bekommt einen Krieg, ein Blutbad – und jeder steht dabei immer auf der für ihn richtigen Seite –, ein anderer darf unterm Sternenhimmel Gedichte schreiben, bis er die Nase voll davon hat. Dieser Filter ist erbarmungslos, Kinder. Nicht jeder ist stark genug, ihn zu überstehen. Vielleicht hätte ein Mensch gegen sich gekämpft und es geschafft, sich nicht in einen Tyrannen oder in einen Schuft zu verwandeln. Der Schatten hilft jedoch allen. Er kennt keine Ethik, hat sie auch nie gekannt …«
Ich streckte meine Hand vor und öffnete die Faust, obwohl die kleine Bestie in mir aufheulte und verlangte, ich solle den Samen auf keinen Fall aus der Hand geben.
Die Feuerkugel fiel auf den Boden. Sie kullerte zwischen die »Strohhalme« des zotteligen Teppichs.
»Das ist ein Tor. Man hat es mir gegeben … oder nicht mir, sondern Nik Rimer. Ja, wahrscheinlich Rimer, er hat nämlich auch darauf bestanden, den Samen hierher zu bringen. Aber jetzt weiß ich nicht, was ich mit ihm machen soll.«
»Und wie bringt man ihn zum Wachsen?«
Das war Grik. Er ging immer sachlicher an die Dinge heran als die anderen Jungen.
»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, ich verstehe es, wenn es so weit ist. Zunächst müssen wir aber eine Entscheidung treffen.«
Erst jetzt begriffen sie, was ich von ihnen wollte.
»Irgendwo dort im Kern, unter dem Himmel, der von Sternen lodert …«
»Ich erinnere mich daran«, fiel mir Till ins Wort. »Wir alle erinnern uns daran. Die Heimat ist in fünf Etappen verlegt worden, in der ersten hatte sich der Himmel noch nicht verändert …«
»Das stimmt nicht, da hatte er sich auch schon verändert«, korrigierte ihn Grik. »Bei dir waren Hemd und Hose damals ja noch eins, aber ich bin schon drei gewesen, und ich erinnere mich genau!«
Drei von ihren Jahren, das entspricht sechs bei uns auf der Erde. Die Geometer hatten ihr System fast sieben richtige Jahre lang durch den Raum bewegt, das war ja nicht irgend so ein Scout … Ich wartete, bis die Jungen ihre Anspannung in diesem komischen Streit abgebaut hatten, dann fuhr ich fort: »Unter dem Himmel, der von Sternen lodert, im Kern der Galaxis gibt es einen Planeten … ich weiß nicht, wie er heißt. Es kommt aber auch gar nicht darauf an, welchen Namen man seiner Erde gibt. Und wenn doch jemand fragt …«Ich grinste. »… dann könnt ihr sagen, sie hat die Nummer W-642. Und wenn euch dieser Jemand daraufhin nicht anlächelt, braucht ihr nie wieder mit ihm zu reden.«
Sie hörten mir zu. Aufmerksam, wie einer Offenbarung. Aber genau die wollte ich ihnen ja auch zuteil werden lassen.
»Auf diesem Planeten gibt es viele Wälder, Flüsse und Berge. Ich habe außerdem den starken Verdacht, dass es dort Meere gibt. Und ich würde sogar vermuten, dass sich dort ein paar Wüsten und Gletscher finden. So ist er also, dieser Planet … nichts Besonderes, natürlich nicht … Übrigens haben alle Kontinente auf ihm eine absolut ungleichmäßige Form, kein Haus sieht wie das andere aus, und niemand kommt auf die Idee, das Gras vorm Haus zu mähen …«
Sie hörten mir zu. Sie hörten mir wirklich zu. Viel aufmerksamer als vorhin, als ich über die Sternenkriege, die Kristallene Allianz und die Menschen, die sich in einen reinen Verstand verwandelten, gesprochen hatte.
Und was ist mit dir, Nik Rimer, hörst du mich auch?
Gebrochen und abermals gebrochen, verraten und vergessen, der beste Regressor der Geometer, der trotz allem in seine Heimat zurückgekehrt war.
Hörst du mich?
»Dort steht ein Haus. Auch dieses Haus ist nichts Besonderes. Allerdings ist es groß. Ein zweistöckiges Steinhaus, in dem drei Menschen wohnen. Eine Familie. Vater, Mutter und ein Sohn. Jeder von ihnen hat seine eigenen Probleme. Der Mann, Kelos, hat Angst, dass er irgendwann kein Mensch mehr ist. Vor ihm liegt ein endloser Weg, das weiß er … und er hat sehr, sehr große Angst, ihn einzuschlagen. Dieses seltsame Unglück gibt es nämlich auch, dass man Angst hat, man selbst zu sein. Wahrscheinlich ist er zu sehr daran gewöhnt, die Verantwortung für andere zu übernehmen und schwierige Entscheidungen zu treffen. Auch das kommt nämlich vor.«
Vielleicht hörte mich Rimer nicht. Aber diese Jungen, die hörten mir zu. Mit gespitzten Ohren.
»Außerdem lebt in diesem Haus Rada. Eine schöne junge Frau. Sie liebt Kelos sehr. Und sie hat Angst, dass er weitergeht … und sie ihm folgen muss. Sie will nämlich nirgendwohin gehen. Es gefällt ihr, ein Mensch zu sein, aber im Schatten ist es peinlich, das zuzugeben.«
»Die sind dumm«, verkündete Laki. Er hatte jetzt auch beschlossen, am Gespräch teilzunehmen. »Das stimmt doch, oder? Sie sind doch dumm?«
»Sie sind müde«, korrigierte ich ihn. »Das kann jedem passieren. Dann haben sie noch einen Sohn namens Dari. Er ist etwas jünger als ihr. Mit ihm haben wir wirklich ein Problem. Das ist hier allerdings sehr schwer zu erklären, das muss man mit eigenen Augen sehen und verstehen. Das wäre also dieser Planet …«