Ich schaute die Jungen an und lächelte.
»Ich glaube, wenn eines Tages vor ihrem Haus vier Jungs auftauchen würden … mutige Jungs, die allerdings ein bisschen verloren wirken … dann wären sie bestimmt nicht enttäuscht. Vielleicht würden sie sich sogar sehr freuen.«
Zugegeben, ich war ein Schwein.
Und dafür brauchte ich mich nicht mal zu verstellen.
Ich presste aus ihnen die Antwort heraus, die ich hören wollte. Ich versprach diesen unglücklichen Jungen nicht das, was mit ihnen passieren könnte, wenn sie durch das Tor gingen, sondern das, wovon sie träumten. Eine Mama, einen Papa, ein Haus.
Aber der Schatten bedeutet doch, dass passiert, was man will? Oder nicht?
»Kehrst du dorthin zurück, Pjotr?«, fragte Till leise.
»Irgendwann. Ich muss Kelos noch die Hand drücken. Und ihm sagen, wie dankbar ich ihm bin. Außerdem ist es immer schön, sie zu besuchen …«
Der Anker. Ich warf den Anker aus. Ich spannte den Faden zwischen den Welten. Ich wob eine neue Realität, nicht nur für diese »schwierige Gruppe« im Internat der Geometer, sondern auch für Kelos, für mich selbst, für alle, die je durch ein Tor gehen würden.
In der christlichen Religion gibt es den Begriff der »spirituellen Zeit«. Wollte man diesen Terminus in die Sprache der Wissenschaft übersetzen, dann wäre es eine Zeit, die keine Richtung hat. Und das Kausalitätsprinzip funktioniert in ihr auf eine höchst ungewöhnliche Weise.
Im Moment lebte ich förmlich in dieser spirituellen Zeit. Bald versuchte ich, diese Jungen aus der zärtlichen Welt der Geometer herauszuziehen, bald, Kelos aus dem Feuer zurückzuholen.
Wer kennt die Antwort, wenn sie im Schatten verborgen liegt?
»Wenn du es jetzt willst …« Till streckte die Hand zum Samen aus. Doch noch bevor er ihn berührte, zuckte er zurück. »… könnten dann überall auf Der Heimat Tore entstehen?«
»Wahrscheinlich.«
»Warum willst du es denn nicht?«
Das war nicht einmal mehr eine Frage. Das war eine Anklage. Eine Herausforderung. Eine Beleidigung, die mich bis ins Mark traf. Und da wurde mir klar, dass Nik Rimer sich durchgesetzt hatte. Der Samen wartete. Und ich stritt mich nicht länger mit ihm …
»Es ist nur zu begrüßen, dass Pjotr nichts tut, was nicht rückgängig zu machen ist.«
Die fremde Stimme in meinem Rücken traf mich wie ein Peitschenhieb. Die Gesichter der Jungen wurden lang, versteinerten, verloren von einer Sekunde zur nächsten ihre Lebendigkeit.
»Das Schlimmste, was man tun kann, ist unüberlegt zu handeln. Die Fähigkeit, unüberlegte Handlungen zu vermeiden … und den Moment der Entscheidung hinauszuzögern … das ist eine große Kunst.«
Ich wandte mich um. Der Cualcua murmelte etwas darüber, wie schwierig es sei, in dem unvollkommenen menschlichen Körper die Kontrolle über eine Situation zu behalten, und dass er bereit sei, die Kampftransformation einzuleiten … Ich hörte gar nicht hin, ich sah nur den Mann an, der durch die Tür kam.
Ich kannte ihn. Flüchtig.
Von meinem Besuch des Weltrats her.
Big, der Kommodore der Fernaufklärung.
Ein kräftiger, blondhaariger Mann mit offenem, wohlwollendem Gesicht.
Wenn ich mich nicht irrte, der ehemalige Vorgesetzte von Nik Rimer.
Am erstaunlichsten fand ich, dass auch die Kinder ihn kannten. Griks Augen strahlten, Fal lächelte, Laki stand auf. Till dagegen blieb an meiner Seite, wanderte nicht ab.
»Guten Tag, Jungs«, begrüßte Big sie zärtlich. Selbst wenn er kein Ausbilder war, erfreute er sich größter Beliebtheit.
»Guten Tag, Kommodore Big!«, antwortete die gesamte »schwierige Gruppe« fast einstimmig.
Mich beschlich ein seltsames Gefühl. Nein, nicht das von Verrat … eher als mache man sich über mich lustig.
Da war ich auf Der Heimat aufgetaucht, die Schlange der Versuchung in Gestalt von Nik Rimer … Ein Apfel hatte mir nicht gereicht, diese Kinder der Geometer in Versuchung zu führen …
»Kommodore Big, ist das hier eine Unterrichtsstunde?«, fragte Till forsch.
»Nein, Kinder. Das ist keine Unterrichtsstunde. Das ist alles die Wahrheit. Ihr habt mit einem fremden Kundschafter gesprochen.«
Till sah mir in die Augen.
»Ich habe euch das von Anfang an gesagt!«
Nun rückte auch er vorsichtig von mir ab.
Aber was hatte ich denn erwartet? Sie verhielten sich ja völlig korrekt. Solange die Situation an der Grenze zum Spiel blieb, durften sie Gott weiß was glauben. Dass es in der Welt Hunderttausende von Planeten gibt, die man gar nicht alle ändern kann. Und dass die Wendigen Freunde gemeine Raubtiere sind, die man nicht achten, sondern mit Napalm verbrennen sollte.
Aber dann kam ein Erwachsener, noch dazu der planetenweit bekannte Held Kommodore Big. Und der rückte mit einigen wenigen Worten wieder alles an seinen Platz.
»Ich darf doch auch weiterhin auf Ihre Vernunft zählen, Pjotr?«
Big blieb an der Tür stehen. Dabei hatte er mit Sicherheit keine Angst vor mir, denn etwas in jeder seiner Bewegungen brachte den bedingungslosen Glauben an seine Kräfte zum Ausdruck. Eher wollte er wohl nicht, dass ich mich vor ihm fürchtete.
»In welchem Sinne?«
»Ganz direkt. Ich will nicht hoffen, dass Sie sich nun auf den Samen stürzen werden.« Sein Blick huschte zu dem auf dem Teppich glühenden Punkt. »Oder hinter den Jungen Deckung suchen.«
Ich fühlte mich mies.
»Den Samen werde ich nehmen, Sie müssen schon entschuldigen.«
Ich streckte die Hand aus und hob die Feuerkugel auf. Big sagte kein Wort.
»Die Kinder können aber ruhig gehen. Ob Sie es mir glauben oder nicht, aber ich habe Terroristen noch nie leiden können.«
»Kommodore Big, sollen wir gehen?« Es war Grik, der die Frage stellte.
Wie leicht gebt ihr eure Burg auf, Jungs. Ohne Kampf, ohne Panik, ohne Tränen. Widerstandslos gebt ihr ihn auf, den Raum des Spiels, in dem ihr bereit seid, Autoritäten anzugreifen, Alternativen zu suchen und eure eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Blendwerk. Alles ist nur Blendwerk, Jungs. Denn eigentlich war das eine Unterrichtsstunde für mich. Man darf nämlich nicht glauben, dass die älteren Generationen weise sind, man darf nicht denken, dass die jüngeren vorurteilsfrei sind.
»Nein. Setzt euch und hört zu. Ihr habt schon zu viel gehört, um jetzt zu gehen.«
Die Ironie des Satzes wusste nur ich zu schätzen. Die Kinder verteilten sich gehorsam auf ihren Betten. Natürlich hatte Big nicht gemeint, die Kinder wüssten schon zu viel. Nein, eher dürfte er ihnen wohl noch mehr eintrichtern wollen.
»Was wollen Sie?«, fragte ich.
»Ich?« Big bedachte mich mit einem finsteren Blick. »Pjotr … Sie stellen seltsame Fragen. Trotzdem werde ich antworten. Ich würde zu gern Nik Rimer sehen. Diesen braven Jungen Niki, der Die Heimat liebt.«
»Es ist nicht meine Schuld, dass er gestorben ist. Ihr seid in einen fremden Kosmos vorgedrungen. Ihr habt Kundschafter ausgeschickt … mit dem idiotischen Auftrag, Gefangene zu machen. Nik Rimer hat sich alle Mühe gegeben. Er hat völlig allein ein ganzes Geschwader angegriffen. Dabei wurde er selbst gefangen genommen … und leider auch getötet.«
Big nickte. Dabei bewegte er den Kopf derart heftig, dass ihm die langen blonden Haare über die Schultern flogen.
»Ich habe mich gegen diese Art von Unternehmung ausgesprochen. Wirklich. Glauben Sie mir das?«
Warum auch immer, aber ich glaubte ihm. Vielleicht weil Big das Gesicht eines guten Menschen hatte. Ein offenes Gesicht.
»Aber ich habe noch mehr Fragen. Wie ist der Ausbilder Fed gestorben?«
Er wusste es. Zumindest er wusste es. Der Gesichtsausdruck der Kinder jedoch veränderte sich sofort.