Ein Mensch, der nichts zu verlieren hat, kann einen anderen niemals verstehen. Das haben die Menschen bereits oft genug bewiesen, angefangen von den Politikern auf der Erde bis hin zu den Ausbildern der Geometer. Und eine Welt, in der sich alle nur um andere sorgen, wäre nichts anderes als ein großer Ameisenhaufen. Aber danach sollte man nicht mich fragen, das sollte man besser in den moralischen Schriften Lew Tolstois nachlesen. Oder noch besser in den Erinnerungen Sofia Andrejewnas, in denen sie ihren großen Ehemann und sein Verhalten im Alltag beschreibt.
»Gut, Großvater«, sagte ich. »Lass uns der Versuchung nachgeben.«
»Wir müssen allerdings noch in Erfahrung bringen, was der Kommandant der Alari von der Sache hält. Sein Abenteurergeist hat schließlich auch seine Grenzen.«
Mein Großvater verstand es einfach, jedem Enthusiasmus einen Dämpfer aufzusetzen.
Drei
Danilow fand ich in einer der Hallen des Flaggschiffs. Genauer gesagt, nicht ich fand ihn, sondern ein hilfsbereiter Alari brachte mich zu ihm.
Inzwischen hatte ich auch begriffen, dass meine Flucht von Anfang an fingiert gewesen war. Nie im Leben hätte ich durch all diese labyrinthartigen, halbdunklen, sich keiner normalen Logik fügenden Gänge gefunden. Man musste eine Ratte sein oder zumindest wie die Alari einen Nager unter seinen Vorfahren haben, um sich nicht in ihnen zu verlaufen.
Nein, man hatte mich geführt, mir nur einen einzigen Weg offen gelassen und mir damit die Illusion von Freiheit vorgegaukelt. Das Bizarre daran war, dass diese Illusion weitaus wahrhaftiger und angenehmer war als die echte, nur minimal entstellte Freiheit in der Welt der Geometer …
Danilow checkte die Wolchak, was ziemlich dämlich aussah: ein winziger Mensch neben dem gewaltigen Shuttle, der gewissenhaft die Kortrison-Platten der Verkleidung überprüft, in die Düsen späht und die Seitenflächen abklopft. Das ist doch wirklich lächerlich, oder? Die Wolchak ist kein Auto, Danilow kein Chauffeur, der einen Defekt bemerken würde.
Aber man möchte halt die Kontrolle über die Situation behalten. Oder die entsprechende Illusion.
»Alexander!«, rief ich, als ich mich ihm näherte. Meine Stimme hallte dumpf in der leeren Halle wider.
Danilow drehte sich um und gab mir ein undefinierbares Zeichen mit der Hand.
»Was macht das Schiff?«, fragte ich.
»Alles in Ordnung«, antwortete der Oberst.
»Mein Großvater hat mir erzählt, es sei komplett umgerüstet worden.«
»Na ja, nicht komplett …«
Ich umrundete das Shuttle und lugte in die Düse.
Nichts Ungewöhnliches. Wo sollten diese Plasmatriebwerke denn sitzen?
»Die Alari haben uns ihre Triebwerke zur Verfügung gestellt«, teilte mir Danilow mürrisch mit. »Sie funktionieren mit Wasser. Und was die Energiequelle angeht – da haben sie mir erklärt, wir würden das Prinzip sowieso nicht verstehen, aber der Vorrat würde für mindestens ein Jahr reichen. Die Schubkraft würde enorm zunehmen.«
»Und was haben wir jetzt für ein Steuerungssystem?«
»Sie haben einen Schalter am Pult angebracht. Mit zwei Positionen: ›Plasma‹ und Emulation Flüssigkeitsrakete‹. Angeblich ist das Steuerungssystem auf die Parameter eingestellt, die wir gewohnt sind, so dass du nicht mal mitkriegst, mit welchem Triebwerk du fliegst. Wir sollen damit wie gehabt fliegen können. Wenn wir wollen, können wir ein paar Mal landen, zum Mond und zurück fliegen.«
»Können wir auch von der Erde aus starten?«, wollte ich wissen.
Danilow schwieg. »Ja«, ließ er dann widerwillig fallen.
»Und das funktioniert alles mit Wasser?«
»Ja.«
Unwillkürlich stellte ich mir ein verödetes Swobodny vor. Ohne Trägerraketen und Brennstofftanks. Es würde nur noch die Startbahnen und Reihen von Fähren geben. Sie würden beschleunigen und losfliegen, eigenständig in den Orbit austreten, den Jump vollführen …
»Können wir ihre Technologie eventuell kopieren?«, fragte ich.
»In hundert Jahren«, antwortete Danilow gereizt.
Ich verstand ihn völlig. Es schmerzt, mit der Nase auf die eigene Primitivität gestoßen zu werden. Vor allem auf eine derart überwältigende Primitivität …
»Haben die Alari uns ihre Triebwerke zur Verfügung gestellt, damit wir zu den Geometern fliegen können?«
»Ja.«
»Und? Nehmen sie uns die Dinger jetzt wieder weg?«
»Wieso sollten sie?« Danilow setzte ein schiefes Grinsen auf. »Als ich sie darauf angesprochen habe … haben sie mir geantwortet, das sei nicht nötig. Nicht bei diesem Schrott …«
Was für eine beschämende Szene: Danilow fragt den Kommandanten der Flotte traurig danach, wann er diese wundervollen, phantastischen, leistungsstarken Plasmatriebwerke wieder herausrücken muss, worauf dieser das Mäusegesicht verzieht und antwortet, es lohne sich nicht, sich mit solchem Plunder abzumühen – ganz wie ein Erwachsener, der einem kleinen Jungen eine Glasperle von erstaunlicher Farbe schenkt. Nur dass das Kind nicht versteht, wie kränkend es ist, wenn sein Schatz für andere nur wertloser Kram ist.
»Zumindest wirst du in einem guten Schiff Pilot sein«, versuchte ich ihn zu trösten. Es gelang mir nicht sonderlich gut.
»Mir hat die Wolchak vollauf genügt«, kappte Danilow meinen Zuspruch. »Und mit diesen Wundertriebwerken lässt man uns sowieso nicht wieder von der Erde weg. Sobald wir gelandet sind, wird das Schiff zu Forschungszwecken auseinandergenommen.«
»Auf der Erde wird man eher uns … auseinandernehmen«, rief ich ihm in Erinnerung. »Und dabei wird man uns alles, was wir uns geleistet haben, unter die Nase reiben. Allein ein Jump von einer niedrigen Umlaufbahn aus genügt, um für den Rest des Lebens Flugverbot zu erhalten.«
Danilow erwiderte kein Wort.
»Ich habe … mit meinem Großvater gesprochen«, fuhr ich fort. »Über einen Flug zum Kern.«
»Ich glaube nicht, dass das klug wäre.«
Das brachte mich aus dem Konzept. Bei Danilow hatte ich nicht mit Widerstand gerechnet.
»Petja, du hast dich auf ein Abenteuer eingelassen, auf das wildeste Abenteuer der Geschichte«, sagte Danilow. »Widerwillig zwar, aber du hast dich darauf eingelassen.
Dann ist jedoch ein Wunder geschehen, du hast es geschafft, in diese fremde Welt vorzudringen und sie mit heiler Haut wieder zu verlassen. Bild dir aber bloß nichts darauf ein! Wie hieß es seinerzeit bei uns: Wenn der erste Flug ins All problemlos verläuft, bringt das Unglück. Du hast an dein Glück geglaubt, daran, dass es nicht sonderlich schwierig ist, sich bei den Aliens einzuschleichen. Und jetzt hast du dir in den Kopf gesetzt, zu einem Ort aufzubrechen, von dem eine ganze Zivilisation geflohen ist. Eine mächtige und unbarmherzige Zivilisation … Ich bin gegen diesen Plan, Petja. Wir müssen zur Erde zurückkehren. Und ihr wenigstens dieses Schiff bringen, damit man es untersuchen kann.«
»Mein Großvater und ich werden zum Kern fliegen.«
Danilow warf mir einen scheelen Blick zu. »Und wie? Mit Jumps?«
Nun musste ich auch ihm all das erklären, was ich bereits meinem Großvater dargelegt hatte. Über das Schiff der Geometer und die Prinzipien seiner Fortbewegung.
Der Oberst hörte mir schweigend und irgendwie mürrisch zu. Nach einer Weile schüttelte er den Kopf. »Es gibt da noch ein kleines Hindernis. Da kommt es gerade …«
Ich drehte mich um. Durch die Halle kam der Kommandant des rot-violetten Geschwaders der Alari.
»Mein Großvater und der Zähler haben ihn bestimmt überzeugt«, sagte ich. »Was spräche denn überhaupt dagegen?«
»Das Schiff der Geometer, Pjotr. Es steht für eine ungeheuer starke Technologie. Es war eine Sache, als du nach einem Gedächtnisverlust mit ihm zu den Geometern geflogen bist. Aber es ist etwas ganz anderes, wenn wir mit ihm … bei klarem Kopf und wachem Verstand aufbrechen.«