Fast, als wollte ich in den nicht-menschlichen Augen eine Antwort lesen.
O nein! Mein Großvater hatte alles gewusst, ganz genau hatte er es gewusst. Aber er hatte die Weltraumsicherheit ausspielen wollen. Er hatte gehofft, die persönliche Treue des ehemaligen Waisenkindes Mascha überwöge sämtliche Vorschriften und Befehle.
Eins hatte er dabei allerdings nicht bedacht: Die Treue war nicht an sein Gehirn gekoppelt, das er erfolgreich vorm Gedächtnisschwund bewahrt hatte, sondern an jenen alten Körper, den niemand mehr brauchte.
Danilow stieg unbeholfen über mich und ging zum Pult. Ich glaubte schon, er würde mich treten. Aber so weit vergaß er sich nicht.
Schließlich waren wir doch Freunde!
»Wir müssen den Jump so schnell wie möglich einleiten, Oberst!«, bemerkte Mascha.
»Das weiß ich selbst, Major«, antwortete Danilow.
Oho, was für eine glänzende Karriere unsere Mascha schon gemacht hatte!
»Schnall Pjotr und den Zähler in den Sitzen an!«, befahl Danilow. »Tempo! Möglicherweise beobachten uns die Alari!«
Ich wollte ihn eigentlich darauf hinweisen, dass sie uns, selbst wenn sie die Möglichkeit dazu hätten, nie bespitzeln würden. Vertrauen kennt nun mal keine Abstufungen! Aber ich konnte ja nicht sprechen. Genauso wenig, wie ich Mascha Widerstand leisten konnte, die mich mit aller Kraft zum Sitz zog.
»Könnten wir vielleicht befehlen, die Schwerkraft aufzuheben?«, fragte sie.
»Das ist nicht nötig. Und du gehst mir auch nicht rüber in den Scout! Am besten vergisst du ihn ganz! Wenn alles glattläuft, wird er auf die Rückkehr des Piloten warten. Aber wir können auch nicht ausschließen, dass …«
Nachdem Mascha mich angeschnallt hatte, konnte ich samt Karel samt Großvater nicht mehr sehen. Ich hörte nur noch, wie sie hantierte. Wie die Ziffern über den Bildschirm liefen, um die Zeit bis zur Wahl des Jumpsektors anzugeben.
Cualcua, kannst du mir helfen? Cualcua?
Mein Symbiont antwortete nicht sofort.
Nein. In den nächsten Stunden nicht. Eine höchst originelle Waffe. Das periphere Nervensystem hat einen Schock erlitten. Normalerweise könnte ich es kopieren, aber ich habe die gleichen Schwierigkeiten wie du.
Zum ersten Mal in meinem Leben freute ich mich nicht über den Triumph der irdischen Technik.
Mit dem Zähler bist du nicht in Symbiose? Ist er ernsthaft verletzt?
Nein. Ihre Rasse eignet sich nicht für die Symbiose mit uns. Ihr Leben beruht auf einer völlig anderen Grundlage. Eine Verschmelzung mit ihm ist genauso unmöglich wie mit der Plasmagrundlage der Torpp. Mich wundert sowieso, dass der Lähmungsstrahl bei dem Zähler gewirkt hat … Proteinfreie Strukturen müssten eigentlich intoleranter sein.
In der Tat, was für ein Triumph der irdischen Technik! Da stellte der Zähler also eine proteinfreie Lebensform dar – und war trotzdem komplett ausgeschaltet worden!
Warum gelangen – und gelingen – uns technische Durchbrüche eigentlich immer nur im militärischen Bereich?
»Bereitet euch auf den Jump vor!«, verlangte Danilow.
Doch selbst die allumfassende Euphorie vermochte meine Verzweiflung nicht zu vertreiben.
Es war wie auf einer Wippe … einer wahnsinnigen Wippe. Aufstieg und Fall. Dunkel und Licht. Ekstase und Schmerz. Nach dem vierten Jump hatte ich den Eindruck, mein Körper gehorche mir allmählich wieder.
Leider hatte nicht nur ich diesen Eindruck. Vor dem fünften Jump fesselten Danilow und Mascha mich, absolut fest und unter Verschwendung einer ganzen Rolle Klebeband. Auch der Reptiloid war auf seinem Sitz gefangen. Ihn verschnürten sie noch sorgfältiger, denn anscheinend konnten sie die physischen Möglichkeiten des Aliens nicht genau einschätzen.
»Willst du etwas trinken, Petja?«, fragte Danilow.
Er war die Freundlichkeit selbst, was meinen Schmerz noch schürte. Ist jetzt noch Platz für einsame Helden? Man kann zum Wirt einer uralten Amöbe werden, man kann einem Zähler erlauben, das Gedächtnis aus einem herauszupumpen, dann alle Kreise des Paradieses einer fremden Welt durchwandern und in die eigene zurückkehren. Alles ist möglich. Nur zeigt sich im entscheidenden Moment, dass man an einer unsichtbaren Leine geht und niemand die Absicht hatte, einen von dieser Leine zu lassen. Und wen man für einen Freund gehalten hat, der hat einem nur auf Befehl von oben beigestanden, während ein kribbeliges Weibsbild geduldig auf die »Stunde X« gewartet hat.
»Du Schwein!«, zischte ich – und wunderte mich, dass meine Lippen mir bereits wieder gehorchten.
In Danilows Augen glomm ein nervöses Funkeln auf. »Bist du wirklich sicher, dass du das Recht hast zu entscheiden, was für die Erde am besten ist, Pjotr?«
»Ja!«
»Siehst du, und ich bin mir genauso sicher«, hielt er zufrieden dagegen.
»Es gibt da … nur einen … Unterschied«, presste ich hervor. »Du hast mich betrogen. Verraten.«
»Vielleicht zeigt das ja nur, dass ich mehr vom Leben verstehe?« Ohne eine Antwort zu erwarten, fuhr Danilow fort: »Was ist jetzt, willst du was trinken?«
Das wollte ich. Sehr sogar.
Nach dem achten Jump erkundigte sich Danilow erneut, ob ich etwas brauchte. Diesmal lehnte ich das Wasser nicht ab. Gierig leerte ich ein Glas und wollte sogar schon fragen, ob mit dem Schiff der Geometer alles in Ordnung ist. Zu gern hätte ich gehört, dass das Schiff abgestürzt war, beim Jump abhandengekommen war, die Triebwerke eingeschaltet hatte und abgehauen war … wohin auch immer, von mir aus sogar in seine eigene Welt.
Glücklicherweise begriff ich noch rechtzeitig, dass das Schiff noch an uns klebte. Andernfalls wäre nämlich die Schwerkraft verschwunden. Die kluge und naive Technik der Geometer wartete auf ihren Piloten …
Nach dem zwölften Jump machte sich Danilow lange am Navigationspult zu schaffen. Keine Frage, wir waren vom Kurs abgekommen. Aus einem Impuls heraus wollte ich meine Hilfe anbieten, aber selbstverständlich hätte mir der Oberst die Steuerung nicht überlassen. Und es nur anzubieten, um mich über meinen Feind lustig zu machen … das wäre dumm gewesen. Naiv.
»Vielleicht sollten wir den Laderaum leeren, Sascha?«, schlug Mascha vor.
Danilow dachte kurz nach und legte dann ein paar Schalter um. Wahrscheinlich bestand gar keine Notwendigkeit, sich von der Last der Büsten zu befreien. Dem Jumper war es egal, welches Gewicht das Schiff auf die Waage brachte, und die Plasmatriebwerke der Alari bewältigten noch ganz andere Lasten. Wahrscheinlich hätte es einfach dämlich ausgesehen, mit der alten Fracht zurückzukehren.
»Die Arretierungen sind gelöst, die Blockierung aufgehoben«, kommentierte der Oberst in alter Gewohnheit seine Handlungen. »Die Luke wird geöffnet …«
Automatisch schielte ich zu einem der großen Bildschirme. Kein schlechter Gedanke, der Anblick war es wirklich wert.
Aus den sich öffnenden Klappen der Luke purzelten, in den Schneesturm der gefrorenen Luft gehüllt, die Steinköpfe. Der Scheinwerfer des Frachtraums sprang an, in dem blendenden Licht wirkten sämtliche Büsten zuckerweiß, rein und proper, erfüllt von einer traurigen Schönheit. In einem munteren Schwärm trudelten die funkelnden kahlen Köpfe dahin, die nichts von ihrem Optimismus eingebüßt hatten, in stolzer Einsamkeit verschwand ein mürrischer Parteiführer von gigantischen Ausmaßen in der Unendlichkeit, zogen weitgehend unbekannte Gesichter vorbei, deren Ruhm längst nicht so dauerhaft war wie der Stein. Als Letztes trieb es einen erstaunt und kurzsichtig dreinblickenden Kopf aus dem Laderaum, der zu fragen schien: »Was soll das denn? Warum denn mich, Genossen?« Die Büste kam der Kamera gefährlich nahe, überschlug sich und lugte schmollend ins Objektiv. Mascha fluchte los, als habe sie mit ebendiesem Politiker noch eine Rechnung offen. Aber war das so abwegig? Was wusste denn ich, wie und warum sie ihre Eltern verloren hatte und im Heim gelandet war.