Wogegen ich ja selbstverständlich gar nichts hatte. Und wenn es nur darum ginge, die Amerikaner, Japaner und das Vereinte Europa auszutricksen, dann wäre ich der Erste gewesen, der Danilow die Hand gedrückt und Mascha – ungeachtet ihrer ständig missmutigen Miene – abgeküsst hätte. Meinem Land etwas Stolz auf sich selbst zu schenken – und sei es der Stolz auf einen erfolgreichen Diebstahl –, dazu war ich bereit. Jederzeit. Aber ausgerechnet jetzt? Wenn das Haus brennt, streitet man sich nicht mit den Nachbarn wegen tropfender Wasserhähne.
Ich musste sogar kichern, als ich zu den beiden Geheimdienstlern hinüberlugte. Aber die hatten momentan andere Dinge im Kopf.
»Man wird die merkwürdige Form bemerken«, gab Mascha zu bedenken. »Jedenfalls von der Delta und von der Alpha aus. Außerdem stimmt … der Auspuff nicht.«
»Ich nehme jetzt mit der Leitung Kontakt auf«, versprach Danilow. »Die sollen nach Schema drei vorgehen.«
»Experimentalflug?«
»Genau. Sie werden Zeter und Mordio schreien und sich dann wieder beruhigen.«
»Passen wir denn überhaupt in den Hangar der Gamma?«, fragte Mascha nach einer Weile.
»Von der Größe her müsste es klappen.«
Alles klar. Sie wollten den Ausländern, vor allem den Amerikanern, weismachen, die Wolchak teste das Innenleben der Juri Gagarm, eines leidgeprüften, seit rund zehn Jahren in der Entwicklung befindlichen Schiffs mit Plasmatriebwerken. Irgendwann würde natürlich herauskommen, dass es in Russland keine funktionstüchtigen Plasmatriebwerke gibt – und dann wäre das Geschrei groß. Fürs Erste kam es Mascha und Danilow jedoch nur darauf an, Zeit zu gewinnen …
Unwillkürlich fing ich an, so zu denken, als stünde ich wirklich auf der Seite der beiden. Als hockte ich nicht mit hundert Metern Klebeband an meinen Sitz festgezurrt da. Danilow schien dieses Einknicken zu spüren.
»Pjotr«, er drehte sich in seinem Sitz um und stieß sich leicht von der Armlehne ab, wobei er abermals die künstliche Schwerkraft vergaß, denn er hatte sich ja eigentlich in die Luft erheben wollen, »wir können noch immer alles ins Lot bringen.«
»Indem wir zum Kern fliegen?«, fragte ich mit größtmöglicher Naivität.
»Pjotr, ich binde Karel und dich los … und wir fliegen die Schiffe gemeinsam«, erwiderte Danilow seufzend. »Ich nehme an, der Reptiloid kann die Aufzeichnungen der Black Box korrigieren, oder?«
»Hast du keine Angst vor einer Meuterei?«
»Ich gehe das Risiko ein, auf dein Wort zu vertrauen.«
»Vertraue mir lieber nicht, Danilow«, sagte ich. »Ich habe dir vertraut – und nun sieh dir mal an, was dabei herausgekommen ist.«
Er zuckte mit den Achseln und beugte sich über die Armaturen. Wir wechselten kein Wort mehr, in den ganzen zwei Stunden nicht, in denen die Wolchak auf die Gamma zuflog. Wir hatten uns einfach nichts mehr zu sagen.
Das Einzige, was mich wunderte, war das Schweigen des Reptiloiden. Weder Karel noch mein Großvater hatten versucht, sich in unser Gespräch einzumischen. Zu gern hätte ich geglaubt, sie würden sich gerade den Kopf über einen Plan zu unserer Rettung zerbrechen. Leider wusste ich jedoch genau: Wenn mein Großvater etwas ausheckt, dann redet er ohne Punkt und Komma …
Die Gamma war nach dem alten, noch von Ziolkowski entwickelten »Radschema« erbaut worden. Eine rotierende Scheibe mit einem Durchmesser von dreißig Metern, in der Mitte beziehungsweise der Nabe herrscht Schwerelosigkeit, außen sorgt die Zentrifugalkraft für eine Art Schwerkraft. Wofür der Roskosmos oder die Weltraumsicherheit die brauchte, wusste Gott allein. Echten Komfort brachte diese Pseudogravitation jedenfalls nicht mit sich, abgesehen davon wechselten die Mannschaften ohnehin monatlich und hätten nicht unter der Schwerelosigkeit gelitten. Stattdessen wuchsen nun allen die Probleme über den Kopf. Um kampfbereit zu sein, musste die Gamma beispielsweise die Rotation einstellen, ansonsten wäre es unmöglich gewesen, die Kampflaser präzise auszurichten.
Man musste die Station wohl als einen letzten Versuch seitens unserer Kosmonautik verstehen, die verlorene Vorherrschaft zurückzugewinnen. Zumindest teilweise. Ein naiver und hoffnungsloser Versuch, genau wie alle anderen, wie jene kleine Fabrik zur Herstellung hochreiner Halbleiter und allergiefreier Impfstoffe beispielsweise, die entweder verbrannt war oder einfach auf einer Umlaufbahn zurückgelassen worden war, oder jene Mondbasis, die seit über zwei Jahren mit Automatik lief, die unvollendete Zeus, ein Schiff für den Flug zum Jupiter, das noch vor der Entwicklung des Jumps konzipiert worden war und jetzt weiter vor sich hinalterte …
Die Wolchak passte ganz knapp durch die Luke im Hangar. Danilow musste sein ganzes Können aufbieten, um die zwei Schiffe hineinzubringen, ohne die spröden Wände zu rammen. Anschließend manövrierte er noch eine halbe Minute lang unter leisem Gefluche, um das verbleibende Trägheitsmoment zu überwinden. Die Wolchak wackelte im Hangar hin und her wie eine Bleikugel in einem winzigen und zerbrechlichen Tannenbaumschmuck. Jeder Schlag gegen die Wand hätte der Station enormen Schaden zufügen können, aber Danilow blieb keine andere Möglichkeit. Schließlich verharrte die Fähre reglos, genauer gesagt, sie begann, langsam an der Wand des zylindrischen Hangars hinunterzugleiten, angezogen von der kaum wahrnehmbaren Zentrifugalkraft. Lautlos schloss sich die Luke des Hangars, verbarg uns vor den neugierigen Radaren anderer Stationen der Wesi.
Damit waren wir also am Ziel. Zwei Schiffe, zwei Helden, zwei Gefangene. Apathie bemächtigte sich meiner, und ich schloss die Augen. Es reichte. Man kann nicht endlos weiterkämpfen. Ich hatte eine Chance gehabt, vorhin, unterwegs, als der Cualcua so eilfertig seinen Fühler ausgefahren hatte. Ich hatte sie nicht genutzt, hatte das Angebot meines Symbionten einfach nicht akzeptieren können. Und das hieß: Der Kampf war vorbei.
Verzeiht, Alari.
Verzeih, Erde.
Ich hätte nie gedacht, dass unsere engen Stationen Räume aufweisen, die nicht unbedingt nötig sind. Beispielsweise ein Gefängnis. Oder hieß das hier anders? Karzer vielleicht? Hauptwache? Isolator? Keine Ahnung. Eins aber zumindest stand fest: Bei den Alari war es bequemer gewesen.
Die Zelle war winzig, höchstens so groß wie das Klo auf einer Datscha. In einer Ecke befand sich tatsächlich ein winziges Klosett, über ihm hatte der Konstrukteur mit kindlicher Unverblümtheit einen Thermocontainer zum Aufwärmen der Nahrung angebracht. Außerdem gab es noch einen Fernsehschirm. Erstaunt überzeugte ich mich davon, dass er funktionierte, aber nur ein paar russische TV-Kanäle anbot. Ach ja, diese Sorge um das kulturelle Wohl der Eingesperrten … Bei den Leuten an Bord kam bestimmt keine Langeweile auf – bei einem solchen Angebot an Seifenopern und idiotischen Shows.
Als der Reptiloid und ich durch die Station geführt wurden, brummte es in ihr wie in einem Bienenstock in Aufruhr. Durch die schmalen Gänge eilten Schwarzhelme, die russischen Infanteristen im All. Der Militärtrakt, an dem wir vorbeikamen, war verriegelt und verschlossen. Es musste höchste Alarmbereitschaft befohlen worden sein, und am Raketenpult saßen jetzt die Schützen.
Das gab mir zu denken. Sehr sogar. Das Land schüttelte das graue Haar, ließ die schlaffen Muskeln spielen und hatte beschlossen, die fremde Technologie nicht wieder herzugeben. Dann wollen wir doch mal sehen, was nun kommt. Immer hübsch abwarten, Tee trinken, auf Fragen antworten und alle Sünden bereuen …
Ich zwirbelte die schmale Hängematte auf und legte mich hinein. Die Pseudoschwerkraft war hier ganz schwach, ich wog etwa so viel wie eine junge Katze. An der Decke schimmerte eine gelbe Glühbirne, die Station vibrierte jedes Mal, wenn ein Manöver durchgeführt wurde. Waren unsere amerikanischen Freunde etwa nicht auf den Trick reingefallen und lasen unserem Präsidenten die Leviten?