Aber sicher. Da brauchte man ja nur mal an die vor Hunger und Durst sterbende grünhäutige Frau in ihrer komfortablen Gefängniszelle zu denken. Oder an den Krieg, der sich schon tausend Jahre hinzog!
Ich stellte noch ein paar Fragen, aber entweder formulierte ich sie nicht gut oder dem Informationssystem standen tatsächlich keine konkreten Antworten zur Verfügung. Blieb zu hoffen, dass die Bücher, die mir Schnee versprochen hatte, mehr hergaben. Eine schwache Hoffnung, zugegeben. Wenn mir das Informationsnetz schon keine Antwort geben konnte, was versprach ich mir dann von Büchern?
Was befremdete mich sonst noch an der Geschichte des Planeten, so wie sie mir gerade präsentiert worden war?
Nun, vor allem der seltsame Verlauf der Entwicklung. Während die Anfangsphase ganz den Vorstellungen der Menschen von einer stellaren Expansion entsprach, geschah im Folgenden etwas Unbegreifliches. Gut, in der Periode der Sternenkriege konnte die Wissenschaft durchaus gebremst worden sein. Der ständige Abzug von Ressourcen, die massenhafte Vernichtung der Bevölkerung, Perioden des Niedergangs der Zivilisation … All das war zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Aber was dann kam! Vor zweitausend Jahren war der Planet erschlossen gewesen, auf ihm hatte sich eine lebensfähige Gesellschaft herausgebildet. Dann war er in den Schatten eingetreten – und alle Entwicklungswege schienen gekappt. Der heutige Krieg wurde auf einem technischen Niveau geführt, das dem bei uns auf der Erde entsprach. Auch der Alltag ließ sich mit unserem vergleichen. Die Bevölkerung war nicht mehr gewachsen. Wie viele Kilometer Dschungel hatten wir passiert – wilden, verlassenen Dschungel, den bis auf ein paar Tiere niemand brauchte? Die kleine Stadt in der Nähe des Stützpunkts wirkte wie eine völlig normale Provinzstadt ohne jedes Hochhaus. Ob in dieser Stadt auch alle Energie für diese längst überholten Auseinandersetzungen mit den Grünen, Sportwettkämpfe und das Musizieren draufging?
Das konnte ich einfach nicht glauben! Gut, einem Teil der Bewohner mochte ein solches Leben gefallen. Wer auf einen Kick aus war wie Schnee, kam hier bestimmt auf seine Kosten. Aber es gab doch auch noch andere. Kinder wuchsen heran, die von interstellaren Flügen träumten – schließlich träumt jedes Kind irgendwann von den Sternen. Unter all den Laienkünstlern musste irgendwann eine Stimme von wahrer Kraft und Schönheit auftauchen, auch wenn sie ebenso fehl am Platze wäre wie eine Perle im Scheißhaufen. Den Wissenschaftlern hier musste es doch irgendwann reichen, pausenlos neue Waffen und Mittel zur biologischen Kriegsführung zu entwickeln.
Diese Welt hätte in ihre Bestandteile zerfallen müssen, und zwar innerhalb von zehn Jahren. Stattdessen hielt sie sich nun schon ein ganzes Jahrtausend!
Vor meinem inneren Auge sah ich klar und deutlich meinen Großvater. So, wie er früher gewesen war. In seinem Menschenkörper. Mein Großvater hätte nur ironisch gekichert, denn er hätte eine Antwort gewusst. Er hatte bereits auf dem Planeten ohne Sonne alles begriffen. Doch obwohl die Antwort ihm nicht gefallen hatte, wollte er unbedingt durch das Tor gehen.
Ich stand auf und ging zum Fenster. Ich versuchte, meine Augen zu entspannen, gleichgültig, und ohne etwas zu fixieren, in die Gegend zu schauen. Es funktionierte, fast auf Anhieb machte ich die Tore aus. Eins befand sich direkt hinter dem Zaun des Stützpunkts, ein zweites weiter weg, nahe der Stadt.
Aber warum funktionierte das Transportsystem nicht mehr? Es hatte mich anstandslos auf diesen Planeten gebracht … Warum eigentlich ausgerechnet hierher? Und wohin hatte es die anderen verschlagen? Zu den Grünen? Zu einem anderen Stützpunkt? Oder auf einen anderen Planeten?
Auf keine dieser Fragen hatte mir der Film eine Antwort gegeben. Mit ihnen würde ich mich an lebende Menschen wenden müssen. Selbst wenn ich es damit riskierte, wie jemand dazustehen, der fragte, warum wir eigentlich atmen und mit welcher Körperöffnung man Nahrung aufnehmen soll. Trotzdem musste ich danach fragen.
»Pjotr.«
In der Tür stand Galis.
»Hast du dich schon eingelebt?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Du hast dir die Gefangene angesehen«, konstatierte der Hauptmann. »Was denkst du jetzt? Dass wir grausame Sadisten sind?«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich ehrlich. »Euer Krieg …«
»Jetzt ist es auch deiner.«
Ich schwieg.
»Es stimmt, wir setzen Gefangene den … für sie … unangenehmsten Bedingungen aus.« Galis seufzte und fing an, durchs Zimmer zu tigern. Er linste zum eingeschalteten Fernseher hinüber. »Du hast dich mit Geschichte beschäftigt … tüchtig … Pass auf, Pjotr, mir gefällt es auch nicht, dass diese unglückselige Idiotin verhungert, wenn das Essen direkt neben ihr steht. Dass sie auf Zehenspitzen dasteht, weil sie Angst hat, einen absolut harmlosen Teppich zu berühren. Aber was sollen wir denn machen? Kannst du mir das mal verraten? Dank dem Schatten haben wir uns ein für alle Mal von der Logik übereilter Schritte befreit. Wir haben diese verlockende Möglichkeit verloren … auch wenn ich mir noch so sehr wünschen würde … du ahnst gar nicht, wie sehr …«
Er biss sich auf die Lippe.
»Was meinst du denn, warum ich nicht fliege? Ich würde das einfach nicht aushalten. Ich würde mich nicht auf Patrouillenflüge beschränken. Ich würde ihren ganzen Kontinent in Schutt und Asche legen.«
Galis sprach in vollem Ernst. Und ich glaubte ihm sofort, dass seine Vision nicht aus der Luft gegriffen war.
Ein einziger Pilot, in einem einzigen Flugzeug … könnte tatsächlich einen ganzen Kontinent niederbrennen. Mir wurde unbehaglich zumute. Gleichzeitig wuchs meine Sympathie für Galis.
»Und sie wissen das …«, sagte Galis gedankenversunken. »Es ist natürlich beschämend, dass sich all die Verrückten hier bei uns versammeln. Aber was soll man machen? Hier ist mein Zuhause. Und es gefällt mir hier. Ich bin nicht Schnee … Er hat mit Sicherheit keine Wurzeln und wird sie auch nie mehr irgendwo schlagen. Er kämpft, isst und stolziert mit hocherhobenem Kopf an den hingerissenen Frauen vorbei …«
»Das Gleiche hat er von Laid gesagt«, verpfiff ich Schnee zu meiner eigenen Überraschung.
»Laid war ein ganz und gar klinischer Fall«, gab Galis offen zu. »Ich habe gleich gewusst, dass er es nicht lange bei uns aushalten würde. Wir sind viel zu harmlos für seinen Geschmack. Bei seiner Delta habe ich vor dem Start die schweren Geschütze blockiert.«
Galis setzte sich in den Sessel und sah mich forschend an. Er wirkte etwas verlegen.
»Und was haben Sie nun vor?«, fragte ich rasch.
»Durchhalten«, antwortete Galis so beiläufig, als habe er genau diese Frage erwartet. »Früher oder später werden die Grünen aufgeben. Sie werden begreifen, dass sich ihr Traum hier nicht verwirklichen lässt. Und die Hälfte der Welt ist ihnen nicht genug. Von mir aus sollen sie ruhig weiterziehen und ihr Glück woanders suchen. Es gibt ja schließlich genug Planeten, oder etwa nicht?«
Ich nickte unsicher.
»Und was suchst du hier bei uns?«, fragte Galis plötzlich. »Na, Pjotr? Irgendwie scheinst du nicht sonderlich erpicht aufs Kämpfen … Und dass du in die Stadt willst, kann ich mir erst recht nicht vorstellen. Also, mein Junge, erklär mir das mal. Wovon träumst du?«
Danach wird er mir dann wahrscheinlich eröffnen, dass ich in seinen Truppen nicht erwünscht bin …
»Ganz ehrlich?«
»Natürlich.« Der Hauptmann lächelte.
»Vom Glück für meinen Planeten.«
»Also …« Galis schüttelte den Kopf. »Also, da hast du dir ja was vorgenommen. Gut, gehen wir mal davon aus, dass du klüger bist als alle anderen. Dass sich alle auf deiner Erde irren. Und nur du recht hast.« Er lächelte wie jemand, der gerade einen unglaublich pointierten Witz gerissen hatte. »Aber was willst du dann bei uns? Hier findest du dein Glück nicht. Das mag anmaßend klingen … aber ich bin doch nicht blind!«