Nein. In zwei Erdtagen soll der Kommandant der Alari Bericht erstatten. Danach treffen sie ihre Entscheidung.
»Wissen die Starken Rassen auch über dich Bescheid?«
Der Cualcua stieß ein Lachen aus.
Sie nehmen mich nicht ernst.
Es hat seine Vorteile, klein und brav zu sein. Oder wenigstens den Anschein zu erwecken.
»Gute Nacht«, sagte ich. »Und … mach, dass ich einschlafe … wenn du das kannst. Aber wenn du imstande bist, Zyankali herzustellen, müsstest du auch ein Schlafmittel hinkriegen. Also, versuch’s, sonst mache ich heute kein Auge zu.«
Dafür ist nicht unbedingt Chemie nötig …
Der beste Arzt der Welt ist ein Cualcua. Das ist eine unumstößliche Wahrheit. Ich schlug die Augen auf und stellte fest, dass die Sonne durchs Fenster schien. Ich hatte vorzüglich geschlafen, jetzt war ich hungrig und voller Tatendrang.
»Danke«, brummte ich.
Die Angewohnheit, laut mit dem Cualcua zu sprechen, konnte ich einfach nicht ablegen. Ob ich mir auf diese Weise eine Illusion von Unabhängigkeit bewahren wollte? So tun wollte, als würden meine Gedanken nicht gelesen und als könnte der Cualcua mich nicht hören, solange ich nicht laut sprach?
Ich machte das Bett, schlenderte durchs Zimmer und inspizierte – bereits gewohnheitsgemäß – die Sachen. Der Alltag ist nun mal die beste Visitenkarte einer Kultur. Das galt auch für die Erde: Die kleinen, armen Wohnungen in Russland mit den Bücherregalen als obligatorischem Attribut, die Bungalows in den USA mit ihrem tadellosen Interieur, der Luxustechnik und dem Stapel von Comics, diesem hundertprozentigem Surrogat ihrer Kultur. Das galt auch für die Geometer und ihre gründliche Kasernenaskese. Auf dem Planeten der Grünen gab es dann die bequeme mentale Bedienung von Geräten, komfortable Betten und sportlich-musikalischen Ringelpietz im Fernsehen.
Hier freute ich mich über zwei Dinge. Die gesamte Technik, mochte sie mir auch unbekannt sein, wurde genau wie auf der Erde bedient, mit Knöpfen und Sensortasten. Ich entdeckte etwas, das stark an eine Stereoanlage erinnerte, und schaffte es sogar, das Gerät einzuschalten. Wenn ich jetzt noch herausfände, wo und wie ich die pechschwarzen CDs mit den Aufnahmen einschieben musste, konnte ich die hiesige Musik hören.
Der zweite und noch erfreulichere Fund waren Bücher. Richtige Bücher, aus Papier. Streng gehaltene Einbände, Text und ein paar Illustrationen. Die Lektüre war merkwürdig. Ich konnte die Schrift entziffern, und sobald ich die Buchstaben, die ein wenig an die arabischen denken ließen, verband, bildeten sich gehorsam Wörter heraus. Dennoch rief das Ganze bei mir ein unangenehmes, fast körperlich wahrnehmbares Gefühl von Missfallen hervor. Das in mein Gedächtnis gepumpte Wissen revoltierte, denn es hatte sich noch nicht akklimatisiert. Ich betrachtete die versponnenen schwarzen Schnörkel, sagte mir in Gedanken die fremden, etwas zu scharfen Laute vor, und erst danach erfasste ich den Sinn des Gelesenen. Trotzdem brachte ich es nicht ohne Weiteres fertig, mich von den Büchern loszureißen. Und wenn sich hinter dem dunklen Glas nur eine einzige Enzyklopädie gefunden hätte, wäre ich überhaupt nicht mehr vom Schrank wegzukriegen gewesen. Aber bei den knapp hundert Werken handelte es sich ausschließlich um Belletristik. Mühsam las ich Band um Band an und stellte die Werke immer verständnisloser zurück.
»Graj hob die von Leidenschaft erfüllten Augen und blickte Lyra an. ›Unsere Liebe bringt einzig Kummer und Enttäuschung!‹, rief er aus.
›Nein!‹ Ihr Busen wogte vor Aufregung.
›Geliebte, wir müssen es hinnehmen … Ich gehe jetzt. Dein Vater hat recht. Ein Mann mit meiner Vergangenheit kann eine Frau wie dich nicht lieben.‹
Eine karge Mannesträne rollte über seine Wange …«
Nein, nein und noch mal nein! Das konnte nicht sein! Ich schnappte mir ein Buch nach dem nächsten, aber die grausame Wahrheit bestätigte sich.
»Sie hob den kleinen Kristallhammer und schlug gegen den Silbergong. Ein schwermütiger Ton hallte im Audienzsaal wider, den Higar mit jeder Pore seiner gemarterten Seele vernahm.
›Geliebte!‹, schrie er auf, während er die Ebenholztür aufriss.
Zalida ruhte in einem Himmelbett, ihr zarter Körper schimmerte betörend durch den spinnwebzarten, aus wertvoller Diamantseide gewebten Vorhang hindurch.
Schluchzend stürzte Higar auf sie zu, zerriss den Vorhang und fiel vor ihr auf die Knie.
›O Zalida, ich habe einen Kuss verdient …‹
›Warum musstest du den Vorhang zerreißen?‹, rief Zalida aus.«
Das konnte doch nicht wahr sein!
Entsetzt starrte ich den Schrank an, über den ich mich so gefreut hatte.
Liebesromane!
Nur war dieses Horrorgenre, gedacht für alte Jungfern und sentimentale Mädchen, auf der Erde anders aufgemacht! Nicht so akademisch und streng. Den Umschlag hatte eine tief dekolletierte Schönheit im Halbprofil zu zieren, damit sich auch ja jede Frau in ihr wiedererkennen konnte. Neben ihr musste ein prachtvolles Mannsbild stehen, zum Kusse über sie gebeugt und ganz den allgemeinen Vorstellungen des weiblichen Geschmacks entsprechend. Auf dem einen Titelbild bildeten ein Brünetter und eine Blondine das Pärchen, auf dem anderen ein Blonder und eine Brünette. Jedes hundertste Buch durfte mit einem rothaarigen Galan und einer Holden in einem Nachen gestaltet werden …
Asche auf mein Haupt! Wie konnte ich nur so auf die ungewohnte Gestaltung hereinfallen? Wollte ich diese Bücher lesen, um Information aus ihnen zu ziehen, könnte ich ebenso gut eine Nadel im Heuhaufen suchen. Das Einzige, was mir auffiel, war, dass der leidende Held die schmachtende Heldin verließ und durch ein Tor ging, worauf nach hundert oder zweihundert Seiten die Heldin ebenfalls durch ein Tor stürmte, um ihren Helden zu suchen. Und natürlich fand sie ihn. Wenn man wenigstens ein paar Worte darüber verloren hätte, wie man mit diesen Toren umging …
Es gab übrigens im Text keine einzige Illustration, auf der Menschen dargestellt gewesen wären. Es gab nur Landschaften, abstrakte Klecksereien und meisterlich ausgeführte Stillleben. Aber kein einziges Gesicht. Ob solche Darstellungen aus religiösen Gründen verboten waren wie bei den Moslems oder ob man einfach nicht auf die Idee gekommen war? Wenn Letzteres zutraf, würde ich hier meinen Weg machen. Allein mit der Idee, Liebesromane in grellen Umschlägen zu verpacken, würde ich so viel Geld scheffeln, dass ich mir ein Haus kaufen könnte … Verdammt! Wahrscheinlich hatte der Cualcua nicht ganz unrecht. Ich ließ mich gehen. Träumte von einem Haus. Dazu dann noch eine Trommel und eine junge Bulldogge, später würde ich heiraten …
Ich schloss den Schrank, kämmte mich und verließ das Zimmer. Aus irgendeinem Grund wünschte ich, die anderen würden noch schlafen. Es gehörte sich ja eigentlich nicht, aber ich wollte durchs Haus streifen, richtige Bücher suchen und versuchen, mit dem hiesigen Informationsnetz zurechtzukommen …
In der großen Halle, die wie bei den Amerikanern direkt hinter der Eingangstür lag, saß Rada. Sie las.
»Guten Morgen«, sagte ich leise.
Die Frau sah auf. »Guten Morgen, Pjotr. Hast du gut geschlafen?«
O ja, sie war garantiert älter als ich. Wesentlich älter. Unter dem trügerisch jungen Äußeren verbarg sich eine Lebenserfahrung, von der ich nur träumen konnte. In ihr steckte Kraft … neben ihr fühlte ich mich klein und schwach.
»Ja, danke. Ich fühle mich wie neugeboren.«
»Komm, ich mache dir Frühstück. Meine Männer schlafen noch.« Rada legte das Buch beiseite. Unwillkürlich schielte ich auf den Deckel, der ebenfalls sehr streng aufgemacht war. »Der Tempel von Annas Urahn. Ich wollte mal wieder einen der Klassiker lesen.«