»Ja. Verzeih mir.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du hast mir keine Wahl gelassen, Junge. Nicht die geringste. Wenn ich dir nicht helfen würde, müsste der Mann, der ich die letzten fünfzig Jahre gewesen bin, sich schämen. Doch selbst wenn ich mit dir aufgebrochen bin, besteht kaum Hoffnung für uns … Immerhin ist es aber der Schritt eines Menschen. Dich trifft dabei keine Schuld. Vielleicht war wirklich die Zeit gekommen, eine Wahl zu treffen.«
»Was hat die Handelsliga uns zu bieten, Kelos?«
»Sie stellt eine Alternative dar. Eine schwache Alternative zum Schatten und zu den Toren. Sie bekämpft den Schatten nicht, wie es damals die Kristallene Allianz getan hat. Trotzdem bewegt sie sich zwischen den Welten und ist zumindest so stark, dass die Herrscher neu entstandener Imperien sie in Ruhe lassen. Die Leute dort wissen viel.«
»Und würden sie uns auch helfen?«
»Eventuell. Ihr Motto ist: Nicht nur der Schatten dient dem Menschen. Insofern kannst du jederzeit mit einem Schiff der Liga in die Welt gelangen, die du brauchst. Außerdem … haben viele meiner Freunde aus der Allianz diesen Weg gewählt. Sie haben sich denjenigen angeschlossen, die uns zerschlagen haben. Ich war vermutlich zu stolz für diesen Schritt …«
»Aber worum soll ich sie bitten, Kelos? Können sie mir eine Kampfflotte für den Schutz der Erde überlassen?«
»Das ist nicht ihre Methode«, entgegnete Kelos. »Nein, Pjotr, letzten Endes sehe ich nur eine einzige Möglichkeit für deinen Planeten. Er muss in den Schatten gehen.«
»Was?«
»Wie aufrichtig du dich wundern kannst!« Kelos lachte. »Pjotr, es ist absolut unrealistisch, in so wenigen Tagen jemanden zu finden, der eine weit entfernte Welt verteidigen würde. Selbst im Schatten ist das unrealistisch. Aber wenn deine Welt in den Schatten kommt, dann ist sie sicher.«
»Wieso das?«
»Ein Planet, auf dem es Tore gibt, ist nicht mehr ungeschützt. Nicht jedes Schiff kann sich ihm nähern. Nicht jede Waffe kann etwas gegen ihn ausrichten. Und selbst wenn dein Konklave bis zur Erde kommt, wird es niemanden mehr töten können. Es wird euch nur eine neue Geburt schenken.«
»Aber dafür sind die Tore nötig?«
»Ja. Früher dauerte es sehr lange und war es sehr kompliziert, sie zu errichten. Aber heute ist es ungeheuer einfach. Es heißt, gerade die Handelsliga sät die Tore auf den neuen Welten, und zwar sowohl auf besiedelten wie auch auf unbewohnten, eben auf allen, die vielleicht einmal für die Bewohner des Schattens von Bedeutung sein könnten.«
»Sie sind gegen den Schatten – aber sie bauen die Tore auf?«
»Aber gewiss. Ihr Weg des Widerstands legt es nicht auf ein Kräftemessen an. Die Liga bietet eine Alternative, unternimmt aber nichts gegen die etablierten Verhältnisse.«
Kelos verstummte. Ich rechnete mit weiteren langatmigen Überzeugungsversuchen, aber sie blieben aus. Er hatte mir den einzig gangbaren Weg vorgeschlagen … zumindest sah er das so.
»Und du? Warum bist du eigentlich gegen den Schatten?«
»Ich? Dagegen?«
»Die Kristallene Allianz, die Vernichtung der Tore …«
Kelos seufzte. »Meine Gefühle tun hier absolut nichts zur Sache.«
»Trotzdem.«
»Vor langer Zeit, Pjotr … vor sehr langer Zeit wurde auf einem kleinen Planeten, der gern im Schatten leben wollte … ein Junge geboren. Er wuchs heran, nach den Gesetzen seiner Welt. Er spielte Krieg, lernte schießen, trat einer Gruppe junger Agenten der Spionageabwehr bei … Das war so üblich. Eines Tages traf er ein Mädchen. Ein ganz normales Mädchen aus seiner Welt. Banal, nicht wahr?«
»Normal«, hielt ich dagegen.
»Was dann kam, war noch banaler. Sie wurden beide älter. Der jungen Frau stand ein Vertrag mit einem seltsamen Planeten bevor … Heute erinnert sich niemand mehr an diesen Planeten, aber damals rief allein das Wort ›Sultanat‹ Furcht und Abscheu hervor. Überall, außer in der Heimat des Jungen und des Mädchen, denn die pflegte ihre Kinder zu verkaufen. Die besten Soldaten der Galaxis. Der Frau war es offen gestanden egal, auf welcher Seite sie Blut vergoss. Aber der Mann musste zu den Regenbogen-Brücken aufbrechen, und das hieß, sie würden sich im Kampf gegenüberstehen. Ihre Gefühle spielten dabei keine Rolle, denn die beiden waren bereits vor ihrer Geburt verkauft worden. Deshalb sind sie geflohen.«
Er sprach ruhig und unaufgeregt, als ginge es nicht um ihn. Aber wer konnte schon sagen, wie man nach vierhundert Jahren auf die erste Liebe zurückblickt?
»Der junge Mann hatte zu diesem Zeitpunkt schon die ersten militärischen Implantate erhalten. Er war bereit, diejenigen zu töten, die sich ihnen in den Weg stellten. Sie hatten keine Angst. Nicht einmal die Schande fürchteten sie, obwohl die Tore in ihrer Welt immer als Ausweg für Feiglinge und Gescheiterte galten. Niemand hielt sie auf. Sie gingen zu einem Tor, genauer zu einem Müllhaufen, der an der Stelle des Tors aufgeschüttet worden war. Das war ganz normal. Es gab keine Wachhunde, keine Roboter und keinen Zaun, sondern nur Müll. Sie kletterten auf diesen Scheißhaufen hinauf, hielten sich bei den Händen und wussten, dass vor ihnen eine neue Welt lag. Eine Welt nur für sie beide. Ich weiß nicht, woran das Mädchen dachte, und woran der Junge dachte, habe ich inzwischen vergessen. Aber wahrscheinlich träumte er vom Meer. Auf ihrem Planeten gab es kein Meer … Und das Tor enttäuschte ihn nicht. Es öffnete sich. Der Junge stand am Ufer eines Meeres und seine Hand …«
Kelos hob langsam die Hand.
»Und seine Hand, die Stahlbalken verbiegen und Taue zerreißen konnte, hielt die Hand des Mädchens nicht mehr. Was dann kam … war vollends banal. Er stürzte ins Tor zurück. Nicht einmal für das Meer hatte er Augen, das tatsächlich in seiner Nähe rauschte. Und das Tor öffnete sich. Jeden Tag öffnete sich ein Tor für ihn, und der Junge hastete von einer Welt in die nächste. Er wusste, dass er das Mädchen finden musste, dass er einfach dazu verpflichtet war. Denn ohne sie waren alle Geschenke des Schattens für ihn sinnlos. Sowohl die Wolken, jene Schwärme funkelnder Vögel, die im Wind mit fliegenden Inseln um die Wette jagten, als auch die wilden Wälder, in denen halbnackte Menschen im Einklang mit der Natur lebten, oder die riesigen Städte, wo Häuser den Blick auf den Himmel versperrten, oder die Wasserfälle, die über Felsen aus Edelstein rannen, oder das kleine Haus am Rand eines unendlichen Felds, wo man dem Jungen zu essen gab und lange versuchte, ihn zu trösten … Manchmal hatte der Junge den Eindruck, er habe schon den gesamten Schatten durchwandert, aber dann begriff er, dass das einfach unmöglich war. Er weinte und lachte, trat ins Tor und wartete, schließlich musste das Mädchen ihn auch suchen, anders konnte es ja gar nicht sein … Ab und zu packte ihn Wahnsinn, und es verschlug ihn in Welten, in denen Krieg tobte, wo er sich in den Kampf stürzte, ohne den leisesten Schimmer zu haben, gegen wen oder wofür er kämpfte. Er wurde zu einem guten Soldaten, sogar Legenden waren über ihn in Umlauf … ein paar kurze Jahre lang. In einer Welt wurde er zum Kriegsherrn ernannt. Dort ist er geblieben. Wenn der Schatten ihn nicht zu seinem Mädchen bringen wollte, dann würde er den Schatten eben in Stücke reißen. Der Junge schwor sich, ein neues Imperium zu schaffen, das ganze Universum zu erobern und sein Mädchen zu finden. Er hatte ja keine Ahnung, wie viele Jungen vor ihm schon einen solchen Schwur geleistet hatten …«
»Du hast sie nicht gefunden?«, fragte ich.
»Nein. Später, als der Junge erwachsen und klüger geworden war, als er seine Freundinnen nicht mehr versehentlich mit dem Namen dieses Mädchens ansprach, da verstand er, was passiert war. Er hatte geliebt … er hatte in einem blendenden Licht gelodert … und das Mädchen hatte im Widerschein geleuchtet. Er durfte ihr deswegen keinen Vorwurf machen. Denn sie hatte ja wirklich geglaubt, vor ihnen läge ewiges Leben und ewige Liebe. Aber der Schatten … der Schatten kannte die Wahrheit. Und er hatte ihr die Freiheit geschenkt.«