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»Masern sind eine Virusinfektion, Pit.« Damals nannte er mich gern Pit. »An dieser Front hat die Medizin keine sonderlichen Erfolge vorzuweisen. Angeblich haben die Aliens wirksame Präparate, um die Viren auszurotten, aber sie haben natürlich nicht die Absicht, uns in den Genuss dieser Präparate kommen zu lassen. Dein Lymphsystem ist jetzt entzündet. Erinnerst du dich noch an das Buch, das wir gelesen haben? Wie mein Körper aufgebaut ist? Im Moment hat sich das Virus im retikulohistiozytären System eingenistet, aber darüber musst du dir wirklich nicht den Kopf zerbrechen. Das ist nicht schlimm, ich hatte in der Kindheit auch die Masern und hab’s überstanden.«

»Dann werde ich also nicht sterben?«, fragte ich, denn ich hatte ein wenig Angst.

»Wenn du keine kortikale Panenzephalitis bekommst, dann nicht«, beruhigte mich mein Großvater. »Und das ist höchst unwahrscheinlich.«

»Was ist denn eine Panenzephalitis?«

Mein Großvater erklärte es mir ausführlich und mit allen Details. Irgendwann ertrug ich es nicht mehr und fing an zu weinen. Ich schrie ihn sogar an, ich wolle das alles gar nicht wissen und er solle den Mund halten …

Daraufhin hatte mein Großvater mir seine kalte Hand auf die Stirn gelegt, gewartet, bis ich mich etwas beruhigt hatte, und dann gesagt: »Das ist nicht richtig, Pit. Die einzige Angst, die man sich gestatten darf, ist die Angst vor dem, was man nicht kennt. Aber wenn du etwas kennst, brauchst du keine Angst mehr davor zu haben. Du kannst die Krankheit hassen und verachten. Aber du brauchst keine Angst vor ihr zu haben.«

»Hast du denn keine Angst gehabt, als du ein kleiner Junge warst und krank gewesen bist?«, schrie ich ihn beleidigt an.

»Doch«, antwortete mein Großvater nach kurzem Schweigen. »Aber das war eben nicht richtig.«

Jetzt dagegen verhielt er sich genau richtig. Jetzt hatte er keine Angst mehr.

Oder er war stark genug, um sich seine Angst nicht anmerken zu lassen. Das, was mit ihm geschehen war, schien er als akademischen Fall zu betrachten, den er seinen faszinierten Kollegen vortrug. Übrigens hätte er genau das mit dem allergrößten Vergnügen getan – wenn er nur den Zähler hätte überreden können, mit ihm zur Erde zu fliegen! Dann wäre er in seine Fakultät gegangen, in den Hörsaal, hätte die Zähne gebleckt, voller Genugtuung in die bleichen Gesichter der Leute der Weltraumsicherheit geschaut, der Exobiologen, der Xenopsychologen, der extraterrestrischen Linguisten, der außerplanetarischen Diplomaten, der … »Was für ein eigentümlicher Fall!«, hätte er geschnarrt. »Ich bin doch tatsächlich immer noch der alte Tattergreis Andrej Chrumow, auch wenn ich jetzt in diesem hässlichen Körper des Reptiloiden vor Ihnen hocke …«

»Was für ein eigentümlicher Fall. Ich bin doch tatsächlich immer noch der alte Andrej Chrumow, auch wenn ich jetzt ein wenig an eine Eidechse erinnere«, sagte mein Großvater. »Und wenn Karel nicht die Absicht hat, sein Gedächtnis zu löschen, winkt mir noch ein langes Leben …«

»Du wirst mich noch überleben, Großpapa«, bemerkte ich.

»Möglich wäre das«, erwiderte er leichthin.

Ich schielte zu meinem Großvater hinüber … zu Karel. Der Zähler lag auf dem Fußboden. Wenn er ein Reptiloid ohne Gast im Körper gewesen wäre, hätte er es sich jetzt auf der Rückenlehne des Betts bequem gemacht.

»Was macht er, wenn du … das Wort führst?«

»Das weiß ich nicht, Petja«, antwortete mein Großvater. »Aber ich glaube, sogar dieser Zustand gefällt ihm. Schließlich hat er schon immer über zwei Bewusstseinsebenen verfügt, und die äußere Welt dürfte ihn weit weniger interessieren als die innere. Ein anderer würde an Stelle des Zählers womöglich schizophren werden, aber ihm ist das egal …«

»Und dir, Großpapa?«

»Mir?«

Ich glaube, er versuchte zu seufzen, aber im Körper eines Zählers ist das nicht so einfach.

»Weißt du, Petja, von einem bestimmten Alter an treten derartige Unannehmlichkeiten wie steife Gelenke, immer schlechter werdende Augen oder auch die Existenz in einem nicht-menschlichen Körper hinter der Möglichkeit zurück, sein Leben zu behalten.«

»Und wie willst du weiterleben, Großpapa?«, erkundigte ich mich leise. »Hier … gut, hier sind nur die Alari und wir – aber was ist auf der Erde?«

»Bin ich in den letzten Jahren etwa häufig aus dem Haus gegangen?«, antwortete mein Großvater mit einer Gegenfrage.

»Aber der Zähler wird doch …«

»Er hat mir einen Kompromiss vorgeschlagen. Fünfzig Jahre verbringen wir auf der Erde. In dieser Zeit wird Karel der Botschafter der Zähler bei den Menschen. Danach werde ich ein halbes Jahrhundert der Botschafter der Menschen bei ihnen sein, selbst wenn Menschen auf ihrem Planeten nicht überleben können. Anschließend geht es wieder von vorn los.«

Das war ein mehr als großzügiges Angebot. Nicht nur für meinen Großvater, sondern auch für die Erde insgesamt. Schließlich gewinnen die Beziehungen der Rassen des Konklaves untereinander mit diplomatischen Beziehungen ein qualitativ neues Niveau.

Dann ging mir der Sinn dieser Worte auf.

»Wie lange leben Zähler denn, Großpapa?«

Mein Großvater ließ sich mit der Antwort Zeit. »Sehr lange, Petja. Viel länger als wir.«

»Hast du schon etwas über ihre Welt in Erfahrung gebracht?«

In diesem Moment veränderte sich der Reptiloid auf schwer fassliche Weise. Er zuckte mit dem Kopf, streckte sich und sagte in scharfem Ton: »Pjotr, ich bitte dich, dieses Thema zu meiden.«

Schon in der nächsten Sekunde war Karel wieder verschwunden, hatte er sich in die zweite Schicht seines Bewusstseins verkrümelt. Trotzdem fühlte ich mich, als hätte jemand heißes Wasser über mich gegossen. O nein, ich hatte nicht mit meinem Großvater geredet, besser gesagt: nicht nur mit meinem Großvater. Der Zähler war die ganze Zeit über dabei. Er hörte alles, sah alles und zog aus allem seine Schlüsse.

»Es ist nicht sonderlich komfortabel, in einem Haus mit Glaswänden ein Zimmer zu mieten«, gestand mein Großvater. Und das … war wirklich mein Großvater!

Was für eine bittere und beißende Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet Andrej Chrumow ein Jahrhundert – und zwar mindestens ein Jahrhundert – in einem nicht-menschlichen Körper leben sollte!

Ich setzte mich im Bett auf und sah den Reptiloiden an. Die anderen hatten uns beide – genauer gesagt uns drei – allein gelassen. Damit wir unsere Familienprobleme klärten? Doch leider gibt es Situationen, die zu lösen man lieber gar nicht erst versucht, weil es einfach unmöglich ist.

»Was hast du jetzt vor, Großpapa? Ich meine, was die Geometer angeht.«

»Diese Entscheidung werden diejenigen treffen, die dafür zuständig sind«, antwortete er nur. »Ich werde meine Empfehlungen aussprechen, aber von mir hängt es nicht ab, mit wem die Erde ein Bündnis eingeht. Ich hoffe allerdings, dass sie sich für die Geometer entscheidet.«

»Das wäre ein Fehler, Großpapa.«

»Pjotr!« Der Reptiloid verkrampfte sich in dem vergeblichen Versuch, menschliche Empörung nachzustellen. »Das Bild, das du uns entworfen hast, fügt sich absolut in das einer normalen Gesellschaft ein.«

»Nein, das tut es nicht«, widersprach ich unnachgiebig. »Ganz und gar nicht.«

»Du lässt dich im Moment ausschließlich von deinen Gefühlen leiten, Pjotr. Ihre Art der Macht gefällt dir nicht? Eine Macht, die auf der Erziehung basiert?«

»Unter anderem auch das. Es ist einfach ein System, das niemandem eine Chance lässt. Jede Tyrannei, jede Diktatur sieht sich mit dem Widerstand der Menschen konfrontiert. Das ist vermutlich in der Natur der Menschen begründet. Solange die Welt in eine äußere, also in eine feindliche, und eine innere, also die Familie, unterteilt ist, gibt es immer zwei Varianten der Logik, zwei Verhaltensmodelle … Ja, sogar drei«, konnte ich mir nicht verkneifen, »denn an dem Punkt, wo die beiden Systeme aufeinanderstoßen, entsteht die Persönlichkeit als solche, eine Legierung aus Gesellschaft und Natur. Genau daraus entsteht Freiheit. Aber eine Welt, in der die Familie als solche ausgelöscht worden ist, wird monolithisch. In ihr gibt es keine Konflikte mehr. Da gibt es nur einen einzigen Moralkodex. Da … da gibt es keine Freiheit als solche, nehme ich an …«