»Ich lasse euch jetzt allein. Das ist nur richtig«, entschied Krej.
»Krej Salat«, alberte mein Großvater, als sich der Mitarbeiter der Liga entfernte. »Diese naiven Optimisten! Sie leben Jahrhunderte, sind aber immer noch grün hinter den Ohren. Er hat nicht geglaubt, dass du mich finden würdest. Sogar gewettet hat er mit mir. Kannst du dir das vorstellen?«
Ich nickte. Wir standen immer noch da, mieden verlegen den Blick des anderen und konnten uns nicht aufraffen, zur Sache zu kommen.
»Na los, ich gieß dir erst mal einen Wein ein …« Mein Großvater wurde mit einem Mal ganz hektisch. »Sie verstehen hier etwas von den Freuden des Lebens … diese im Grunde so liebenswerten Menschen …«
Er wandte sich dem Tisch zu, irgendwie verkrampft und ungeschickt, für jede Bewegung zu weit ausholend, ihr zu viel Kraft verleihend – mein Großvater vermochte den neuen Körper noch nicht mit den Verhaltensweisen in Einklang zu bringen, die er sich in seinem Alter zugelegt hatte …
»Großpapa!«, rief ich und warf mich ihm in die Arme. »Großpapa!«
Er drückte mich fest an sich, vergaß, wie viel Kraft jetzt in seinem Körper steckte, in den die Tore reichlich Energie und lugend gepumpt hatten …
»Großpapa, ich bin so froh, dass du so … so geworden bist«, flüsterte ich. »Teufel auch, dafür könnte ich diesen Schatten sogar lieben … Wenn du zurück bist und an der Uni Vorlesungen hältst, wirst du dich vor Studentinnen nicht retten können …«
»Psst! So was darfst du nicht in Maschas Gegenwart sagen, sonst kann ich mir sowohl die Vorlesungen wie auch die Studentinnen abschminken …«
Wir sahen uns an.
Wollte ich mich etwa darüber wundern?
»Über meine Lippen kommt kein Wort mehr«, versprach ich.
»Verzeiht, dass ich euer zutiefst persönliches Gespräch unterbreche …«
Ich drehte mich um, gab meinen Großvater aber noch nicht frei. Der Reptiloid saß zu unseren Füßen, mit der beleidigten Miene eines geliebten Hundes, den man plötzlich nicht mehr beachtet.
»Hallo, Karel«, begrüßte ich ihn.
»Ich freue mich, dich zu sehen. Sag mir, Pjotr, belastet es unsere Beziehung, dass ich nicht mehr als temporäre Heimstatt für Andrej Valentinowitsch fungiere?«
Ich ging in die Hocke und berührte die weichen grauen Schuppen. Die Hand streckte ich lieber nicht aus – das hätte zu sehr nach »Sei ein braver Hund und gib Pfötchen!« ausgesehen.
»Ich freue mich auch sehr, Zähler«, erwiderte ich. »Und nimm mir den Zähler nicht krumm. Das ist ein Kompliment. Du hast dir die Aufgabe vorgenommen, die für mich am wichtigsten ist, und du bist zu einem Ergebnis gelangt. Erinnerst du dich noch, wie du mich gefragt hast, wie die Menschen zu eurer Rasse stehen. Ich weiß nicht, was die Menschen allgemein antworten würden … aber ich … ich stehe in deiner Schuld. Oder betrachte dich als Freund. Wie es dir besser gefällt.«
Der Zähler stellte sich auf die Hinterpfoten und streckte sich zu meinem Ohr hoch. Sein Geflüster war kaum zu hören. »Der Stern, den ihr Spica nennt. Der Gasgigant, der Einzige im System. Der Gasgigant, der von einem Ring umgeben ist.«
Hitze durchflutete mich. Das war nicht einfach die Geste eines einzelnen Reptiloiden gegenüber einem einzelnen Menschen.
»Danke. Du weißt ja auch, wo mein Zuhause ist.«
»Willst du auch Pjotr dein Geheimnis anvertrauen, Karel?«, fragte mein Großvater. »Nur zu, du brauchst keine Angst zu haben. Er wird es hüten.«
Aus dem Maul des Reptiloiden kam ein Schmatzlaut. Er zögerte so offenkundig und deutlich, dass ich keinen Zweifel mehr hegte: Diesmal spielte er die menschlichen Emotionen nicht nach, diesmal tobte in ihm tatsächlich ein Kampf. Eine Schlacht, die sich nach seiner inneren Uhr Jahrhunderte hinzog.
»Wir sind keine Lebewesen, Pjotr.«
Mein Großvater nickte, als er mein entgeistertes Gesicht sah.
»Gasgiganten bringen kein Leben hervor. Wir sind Nachfahren von etwas, das einst eine Maschine war. Eine Maschine aus dem Schatten.«
Die lebenden Computer des Kosmos! Na klar!
Die Zähler!
Die erstaunliche Fähigkeit, mit Maschinen zu interagieren, das unstrittig nicht vorhandene Bedürfnis zu atmen und zu essen! Die Unfähigkeit, mit den Cualcua eine Symbiose einzugehen!
Warum hatte ich das nicht schon früher begriffen?
Der Zähler wartete, den Blick fest auf mein Gesicht gerichtet.
»Das ändert nichts, Karel«, sagte ich. »Absolut überhaupt nichts.«
Alles in dem Haus war neu und trug einen so klaren Stempel der Gewohnheiten meines Großvaters, dass ich mir einen fragenden Blick nicht verkneifen konnte.
»Es wurde alles extra für mich angefertigt«, erklärte mein Großvater, der sich in einem Ledersessel lümmelte. »Ohne jede Widerrede. Du kannst dir nicht vorstellen, wie angenehm es ist, wenn du dich nicht mit idiotischen Installateuren herumzuschlagen brauchst, nicht durch Geschäfte mit ihren dämlichen Verkäufern streifen musst …«
Ich nickte. Das Verhältnis meines Großvaters zu den Angehörigen aus dem Dienstleistungsbereich war mir nur zu gut bekannt.
»Sieht fast so aus, als wolltest du dich hier länger niederlassen …«
»Petja, ich wollte nur auf dich warten«, widersprach mein Großvater, der zum Zeichen des Protests sogar die Hand gehoben hatte. »Ich habe gehofft, dass du früher oder später …«
»Mir haben zwei Tage gereicht«, sagte ich.
Mascha und Kelos waren im Garten geblieben. Sie besaßen so viel Taktgefühl, uns die Zeit zu geben, was zwar kaum erstaunlich für Kelos, aber nach wie vor bemerkenswert für Mascha war.
Durch die halb offene Tür sah ich das Schlafzimmer. Na toll! Das hatte noch gefehlt. Eine Spiegeldecke, ein riesiges Bett, die Sorte, die mein Großvater früher als »Lenin ist mit uns« verspottet hatte, Kristall-Kinkerlitzchen an den Wänden, Bilder, Blumen …
»Dein Geschmack konnte sich wohl so richtig austoben, wie?«, fragte ich.
Mein Großvater folgte meinem Blick und geriet in Verlegenheit. »Pit … zum Teufel auch, du bist schließlich kein Kind mehr … du wirst doch wohl verstehen, was es heißt, seine Jugend zurückzugewinnen?«
»Leider nur theoretisch. Gut, lassen wir das, Großpapa. Erzähl mir lieber, was hier passiert ist! Wo seid ihr gewesen, Mascha und du? Wie hast du es geschafft, in den paar Tagen bis zur Führung der Handelsliga vorzudringen?«
»Stopp!« Mein Großvater gebot mir Einhalt. »Alles schön der Reihe nach, ja?«
Es fiel mir schwer, ihn weiter Großvater zu nennen. Am liebsten hätte ich wie damals auf dem Kreuzer der Alari die Augen geschlossen und mich an den früheren Andrej Valentinowitsch erinnert. Aber ich widerstand der Versuchung. Das hier war für immer. So würde mein Großvater von nun an sein.
»Als Erstes sind wir in eine höchst sonderbare Welt geraten … Hat Mascha dir schon davon berichtet?«
»Seltsamerweise nicht. Alles, was ich weiß, ist, dass es ihr da überhaupt nicht gefallen hat.«
»Wenn es nur das wäre! Das Problem ist vielmehr … Ich mag die Aliens als Klasse nicht, als gesellschaftliche Erscheinung, die auf völlig anderen moralischen Prinzipien fußt. Einzelnen Vertretern der Außerirdischen stehe ich jedoch durchaus positiv gegenüber. Aber Mascha fasst die Aliens nicht als Persönlichkeiten auf und reagiert nahezu allergisch auf den nicht-menschlichen Körper. Gut, aber lassen wir das, außerdem ist dir die Sache sowieso bekannt. Hör zu, Pit, ich habe verstanden, worum es sich beim Schatten handelt, und zwar schon auf diesem Irrstern. Als Transportnetz taugen diese Tore nicht mehr als ein Mikroskop, wenn du einen Nagel einschlagen willst. Es gibt zu viele in jeder Welt, und gleichzeitig sind es zu wenig, um wirklich bequeme Ortswechsel zu garantieren. Wenn zwischen zwei Toren fünfzig Kilometer liegen, halten wir Menschen das schon nicht mehr für ein funktionstüchtiges Transportsystem. Und deine Freunde, die Geometer, konnte nur eins in Panik versetzen: Welten, in denen ihre heroischen Regressoren massenweise desertieren. Nicht im Kampf sterben, sich nicht zwischen Millionen von Welten verirren, sondern desertieren, weil sie nämlich alles verachten, was ihnen mit der Erziehung eingebläut worden ist. Versuchen wir uns doch einmal vorzustellen, was zu einer solchen … Massenemigration von Tausenden von Menschen führen kann. Obendrein von grundverschiedenen Menschen! Denn alle Nivellierungen der Geometer spielen sich ja an der Oberfläche ab! Tief in sich drin sind diese Menschen aber die Alten geblieben! Einer schreibt heimlich Gedichte und trägt sie seinem Computer vor, ein anderer träumt verschämt von Ruhm und Ehre oder von einem weichen Plätzchen im Saal des Weltrats, wieder ein anderer möchte – und zwar unbedingt –, dass ihm sein geliebter Ausbilder mit dem Rohrstock den schwieligen Regressorenarsch versohlt …«